Selbstverständlich war das Einkaufen der Reinigungshilfsmittel und aller anderen Dinge des täglichen Bedarfs, wie unter anderem Drogerieartikel, Getränke und Lebensmittel für Frühstück und Abendessen, nur ein Beispiel für die vielen anderen anfallenden Aufgaben, die mit Gerdas Pflege jetzt neu und zusätzlich auf Petra und mich zu kamen: Damit das Heim für Mittagessen und Sauberkeit sorgen konnte, mussten Vorgespräche geführt, Angebote geprüft, Verträge gemacht und Rechnungen bezahlt werden. Auch als kurz danach der ambulante Pflegedienst zum Einsatz kam und Gerda bei der Körperpflege, beim Anziehen und beim Essen half, gab es noch genug für uns zu tun: Neben dem Einkaufen auch das Besorgen und Beantworten der Post, das Erledigen der Bankgeschäfte, Terminabsprachen mit dem Hausarzt, Beschaffen von Medikamenten, sauberer Kleidung und vieles andere mehr.
Nachdem sich einige Mitarbeiter vor Ort in Gerdas Wohnung ein Bild von der allgemeinen Lage gemacht hatten, war das Pflegeheim sehr daran interessiert, meiner Mutter außer dem Essen auf Rädern und der wöchentlichen Wohnungsreinigung auch andere Hilfeleistungen anbieten zu können. Daher sorgte die Heimverwaltung selbst dafür, dass Gerda von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) ein Gutachtertermin angeboten wurde. Wir waren natürlich auch sehr daran interessiert, dass dieser Termin schnell zustande kam. Also widersprachen wir dem vorgeschlagenen Besuchstermin nicht, obwohl Petra am besagten Tag verhindert und ich selbst auf Dienstreise war, wir beide also Gerdas erster Begutachtung durch den MDK nicht beiwohnen konnten. Stattdessen wurde vereinbart, dass außer Gerda und dem Gutachter noch eine enge Freundin unserer Familie und eine erfahrene Mitarbeiterin der Heimverwaltung anwesend sein sollten.
Im Auftrag der Medizinischen Dienste rief ein „netter Herr“ kurz vor dem Termin bei Mutti an und meinte, er würde sich wohl etwas verspäten. Die entsprechend informierte Mitarbeiterin des Pflegeheims kam daraufhin natürlich auch etwas später zu Gerda, der Gutachter vom MDK war aber doch pünktlich da gewesen und inzwischen schon wieder weg. Was für den besagten netten Herrn den Vorteil hatte, dass – anders als vorgesehen – niemand vom Pflegeheim bei dem Gutachtertermin anwesend war. Mit dem MDK hatten also nur Gerda und unsere Freundin Nina am schön gedeckten Kaffeetisch gesessen und sich unterhalten.
Passend zu dieser gemütlichen Runde fiel das Gutachten von Kleinigkeiten abgesehen ausgesprochen positiv für meine Mutter aus: Zwar wurden „körperliche Schwäche, Urininkontinenz, arterieller Hypertonus (Bluthochdruck), deg. WS-Syndrom (Probleme mit der Wirbelsäule), Rundrücken“ festgestellt. Aber: „Es liegt keine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung oder psychische Erkrankung vor… Versicherte ist zu allen Qualitäten orientiert und kann sich selbstständig beschäftigen… Tremor in den Händen (zittrige Hände), keine Paresen (Lähmungserscheinungen).“ Und weiter an verschiedenen Stellen des Gutachtens: „Appetit erhalten… Stuhlgang regelmäßig und täglich… Aus den festgestellten Auffälligkeiten resultiert kein regelmäßiger bzw. dauerhafter Beaufsichtigung- und Betreuungsbedarf… Begutachtungsergebnis: Pflegestufe 1.“
Ausdrücklich erwähnt wurde in dem Gutachten, dass der gutachterlich festgestellte Hilfebedarf „mit den Angaben der Pflegeperson“ übereinstimme. Und genau da lag der Hund begraben: Für meine Mutter war der Besuch des Gutachters ein besonderes gesellschaftliches Event, bei dem sie noch einmal alle ihre Qualitäten als Gastgeberin ausspielen konnte – ein allerletztes Mal, wie sich dann leider herausstellen sollte. Obwohl meine Eltern nie ein eigenes Haus besessen hatten, sondern ihr ganzes Leben über in verschiedenen Wohnungen zur Miete gewohnt hatten, waren ihre Einladungen und Gesellschaften immer ein Ausdruck purer Lebensfreude gewesen. Bei solchen Gelegenheiten waren Gerda und mein Vater Fritz Wilhelm Ernst Bartelt stets perfekt gekleidet, der Tisch äußerst geschmackvoll und opulent gedeckt und die ganze Wohnung auf Hochglanz gebracht. Kurz und gut, von den Speisen und Getränken bis hin zum äußeren Anschein: Kein Gast vermisste irgendetwas, kein Gast ging unzufrieden nach Hause. Es wurde gelacht und diskutiert, gelegentlich auch gesungen und getanzt, und selbst wenn ich mich als Kind früh auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, fand ich ruhigen und erholsamen Schlaf meist erst viel später, als mir lieb war.
Fast genau so war es auch am Tag des MDK-Besuchs: Meine Mutter hielt an perfekt gedeckter Kaffeetafel Hof, und wenn unsere gute Freundin nicht dabei gewesen wäre, wären so nebensächliche Themen wie Urininkonsistenz und Gerdas angeblich guter Appetit und täglicher Stuhlgang niemals zur Sprache gekommen. Stattdessen hätte sie noch mehr von ihrer bewegten Vergangenheit mit Flucht und Vertreibung und ihren späteren Erfolgen bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, vornehmlich für die evangelische Kirche in ihrer damals neuen Heimat Schleswig-Holstein gesprochen. Auch ihr Buch („Bilder einer Kindheit“) und meine eigenen beruflichen Erfolge wären sicherlich ausführlich zur Sprache gekommen. Auffällig, ihr hervorragendes Gedächtnis, so war es dann auch im ersten MDK-Gutachten vermerkt.
Leider entsprach die Realität nur wenig dem schönen Schein während der gemütlichen Kaffeerunde: Anders als im Gutachten vermerkt, zeigte Gerda seit Beginn ihrer Hilfsbedürftigkeit deutliche Anzeichen einer schweren Depression, hatte ihren Appetit fast vollständig verloren, trank wegen ihrer Blasenprobleme viel zu wenig, konnte sich auch nicht mehr selbst beschäftigen, weder dem Radio- noch dem Fernsehprogramm folgen, sondern saß die meiste Zeit apathisch und bewegungslos in ihrem Wohnzimmerstuhl und litt demzufolge – entgegen der eindeutig falschen Aussage das Gutachtens – unter einer schweren Verstopfung, der auch mit Abführmitteln (sie nahm regelmäßig Dulcolax-Zäpfchen) nicht mehr beizukommen war. „Wann holt mich der Herrgott endlich zu sich?“, war immer öfter die Begrüßung, wenn ich zu ihr kam. Noch heute sehe ich mich abends in ihre nur spärlich erleuchte Wohnung kommen und meine Mutter regungslos am Tisch sitzen, schweigend ins leere Dunkel blickend, im Geist ihren Herrgott und Schöpfer um Erlösung anflehend – ein Schatten ihrer selbst.
Der Sturz
Dabei hatte es schon vor dem Gutachterbesuch ein Malheur gegeben: Gerda war schwer gestürzt. Ich war nicht wenig erschrocken, als sie eines Abends nicht am Wohnzimmertisch, sondern ziemlich verstört auf ihrer Bettkante saß. Ihre Haare waren blutverschmiert, auch auf dem Fußboden war viel Blut. „Mein Gott, was ist passiert, Mutti?“ „Ich habe mir den Kopf am Bett gestoßen!“ „Wie ist das möglich?“ Ich schaute sie ungläubig an. Ihr Bett war rundherum dick gepolstert, nirgends eine scharfe Kante. Aber woher kam das viele Blut auf ihrem Kopf und dem Fußboden? Aber gestürzt war sie, daran gab es keinen Zweifel. Und verletzt war sie auch. Daher gab es nur eins: Die 112 musste angerufen werden, um Gerda schnellstmöglich ins Krankenhaus zu schaffen. Die Sanitäter kamen auch sofort und wieder fuhren wir zusammen in die Klinik, dieses Mal allerdings ohne irgendwelche Einwände und Bedenken seitens meiner Mutter. Gottseidank war für mich schon Wochenende und ich konnte so lange bei ihr bleiben, bis sie vollständig versorgt war.
Das Warten auf eine Untersuchung nahm natürlich einige Zeit in Anspruch, da sie an diesem Abend – wie immer freitagabends – beileibe nicht die einzige Patientin in der Notaufnahme war. Da sie den Urin nicht so lange halten konnte, bis ein Arzt Zeit für sie hatte, und auch die zuständige Krankenpflegerin anderweitig beschäftigt war, ergab sich mit der Zeit ein immer stärker drängendes Problem. Auf Gerdas Wunsch hin machte ich mich schließlich selbstständig auf die Suche nach einer Lösung, indem ich mich in der nicht gerade kleinen Aufnahmestation auf Wanderschaft begab. Mit dem Ergebnis, dass ich in irgendeine Situation hereinplatzte, in der es wirklich um Leben und Tod ging. Hier fand ich die gesuchte Pflegerin. Ganz klar, dass sie über mein plötzliches Auftauchen an diesem unpassenden Ort ziemlich erbost war. Also wurde ich sofort von ihr angepflaumt und musste unverrichteter Dinge zu Gerda zurückkehren. Einerseits hatte ich Verständnis für die Beschimpfungen, die ich mir anhören musste. Andererseits wusste ich aber auch, wie sehr eine volle Blase schmerzen kann, und war ärgerlich, dass meine Mutter weiter warten musste.
Am Ende war alles gut: Gerda lag tags darauf zufrieden auf irgendeiner Station der Klinik im komfortablen Krankenbett. Zufrieden auch deshalb, weil sie hier endlich den Rundum-Service genießen konnte, den sie zuhause bisher so schmerzlich vermissen musste. Und auch ich war zufrieden, denn die Ärzte hatten bei ihr nichts Ernstes festgestellt: Der Kopf war sorgfältig