Sylvinet war freilich erstaunt gewesen, daß sein Bruder ihn so kühl empfangen hatte; aber er dachte doch nicht daran, ihm deshalb einen Vorwurf zu machen, so glücklich war er, einmal wieder mit ihm zusammen zu sein. Am folgenden Morgen, – da Landry wußte, daß der Tag ihm gehöre, weil der Vater Caillaud ihn von aller Arbeit befreit hatte, – machte er sich früh auf den Weg nach la Cosse, da er glaubte, er werde seinen Bruder noch im Bett überraschen. Aber trotzdem, daß Sylvinet die Gewohnheit hatte von den beiden am längsten zu schlafen, so erwachte er doch grade, als Landry die Umzäunung des Kampos überschritt. Hastig sprang er aus dem Bett und eilte mit bloßen Füßen hinaus, als ob irgend etwas ihm zugeflüstert hätte, daß sein Zwillingsbruder ihm nahe sei. Für Landry war dies ein Tag vollkommener Freude. Sein Entzücken, das Vaterhaus und seine Familie wieder zu sehen, wurde durch das Bewußtsein erhöht, daß dies nicht mehr alle Tage geschehen könne, daß es gleichsam wie eine Belohnung für ihn sei. Sylvinet vergaß alle seine Schmerzen wenigstens während der einen Hälfte des Tages. Beim Frühstück sagte er sich vor, daß er mit seinem Bruder zu Mittag essen werde, als aber der Abend nahte, dachte er daran, daß dies nun für eine Zeit lang die letzte gemeinsame Mahlzeit wäre, und darüber begann er unruhig und betrübt zu werden. Er sorgte mit zärtlicher Aufmerksamkeit für seinen Zwillingsbruder, gab ihm das beste von seinem eigenen Essen, die Kruste von seinem Brote und die zarten Mittelstückchen von seinem Salat. Auch die Kleider seines Bruders und dessen Schuhe waren ein Gegenstand seiner Fürsorge, als ob dieser einen weiten Weg zu gehen habe, und als ob derselbe überhaupt sehr zu beklagen sei. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er selbst der Beklagenswerteste von ihnen sei, weil er der am meisten Betrübte war.
Sechstes Kapitel
So verging die ganze Woche. Sylvinet ging täglich hinaus, um seinen Bruder zu besuchen, und wenn er dann vom Zwillingshofe herübergekommen war, blieb dieser für ein paar Augenblicke bei ihm stehen. Landry fügte sich immer besser in seine Lage; Sylvinet aber wußte sich in die seinige gar nicht zu finden, und wie eine im Fegefeuer auf Erlösung harrende Seele begann er die Tage und Stunden der Trennung zu zählen.
Auf der ganzen Welt gab es niemanden als Landry, der ihn hätte zur Vernunft bringen können. Auch die Mutter wandte sich an diesen, daß er ihr helfen möchte, den Bruder zu beruhigen, denn mit der Betrübnis des armen Knaben wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er mochte sich an keinem Spiele mehr beteiligen, und arbeitete nur noch, wenn es ihm gradezu befohlen wurde. Seine kleine Schwester führte er wohl noch spazieren, aber fast ohne ein Wort dabei zu reden, oder ihr auf irgend eine andere Art die Zeit zu vertreiben; er gab nur darauf acht, daß sie nicht fallen oder auf eine andere Art zu Schaden kommen könne. Sobald man ihn nicht immer im Auge behielt, machte er sich davon und wußte sich so gut zu verbergen, daß man gar nicht wußte, wo man ihn suchen sollte. Alle Gräben, alle Furchen, alle Schluchten, wo er gewohnt gewesen war mit Landry zu spielen und zu plaudern, suchte er wieder auf. Er setzte sich auf die Baumwurzeln, auf denen sie miteinander gesessen hatten, und netzte sich die Füße in allen kleinen Bächen, in denen sie wie ein paar junge Enten miteinander herumgepascht waren; er freute sich, wenn er nur ein Stück Holz wieder auffand, welches Landry mit seinem Gartenmesser zugeschnitten hatte; oder irgend einen Kieselstein, den dieser als Schleuder oder zum Feuerschlagen benutzt hatte. Er sammelte sie alle, diese Kleinigkeiten und versteckte sie in einem hohlen Baume oder unter einer Holzschicht; von Zeit zu Zeit holte er sie dann wieder hervor, um sich an ihrem Anblick zu erlaben, als ob sie Gegenstände von großer Wichtigkeit gewesen wären. In Gedanken ging er alles wieder durch und zerbrach sich den Kopf, auch nur die geringsten Nebenumstände des vergangenen Glückes in seiner Erinnerung wieder heraufzubeschwören. Was für jeden anderen gar keinen Wert gehabt hätte, galt ihm noch über alles. Wie es in der Zukunft werden sollte, das kümmerte ihn gar nicht, denn er hatte nicht einmal den Mut an eine Reihenfolge solcher Tage zu denken, wie sie ihm jetzt auferlegt waren. Er lebte mit seinen Gedanken nur in der Vergangenheit und verzehrte sich in den endlosen Träumereien seiner Sehnsucht.
Es gab Zeiten, wo er sich einbildete seinen Zwillingsbruder leibhaftig vor sich zu sehen und zu hören. Dann plauderte er ganz allein vor sich hin, in der Meinung diesem zu antworten. Manchmal überraschte ihn auch der Schlaf, wo er sich gerade befand, und er träumte von ihm; wenn er dann aber erwachte und sich wieder allein fand, begann er bitterlich zu weinen, und er ließ seinen Thränen um so freieren Lauf, weil er hoffte durch die Ermüdung seinen Schmerz endlich gelindert zu fühlen.
Eines Tages, da er auf seinen Streifereien bis zu der Stelle gelangt war, wo das Schlagholz von Champeaux steht, fand er auf dem Bach, der zur Regenzeit aus dem Gehölz herausfließt, jetzt aber ganz ausgetrocknet war, eine jener kleinen Mühlen wieder auf, wie die Kinder sie in unserer Gegend so geschickt aus Hobelspänen zu machen verstehen, daß sie sich bei der Strömung drehen und sich manchmal lange auf der Oberfläche des Wassers erhalten, bis andere Kinder sie zerbrechen, oder der höhere Wasserstand sie mit fortreißt. Diese, welche Sylvinet wieder aufgefunden hatte, lag hier schon seit mehr als zwei Monaten, und da es eine einsame Stelle war, hatte niemand sie gesehen, noch etwas daran verderben können. Sylvinet erkannte sie sogleich als das Werk seines Zwillingsbruders; beim Anfertigen derselben hatten sie sich vorgenommen wieder hierher zu kommen, um darnach zu sehen. Sie hatten aber nicht weiter daran gedacht, und seitdem an anderen Orten viele andere Mühlen gemacht.
Sylvinet war also sehr erfreut sie wieder zu finden, und trug sie etwas weiter hinauf, wohin das Wasser des Baches sich zurückgezogen hatte. Dort wollte er sehen, wie sie sich drehte und dabei an das Vergnügen denken, welches Landry gehabt hatte, als er ihr den ersten Anstoß gab. Dann ließ er sie an der Stelle, wohin er sie getragen und freute sich schon darauf, wenn er am nächsten Sonntag mit Landry wiederkommen würde, um ihm zu zeigen, wie ihre so fest und gut gefügte Mühle sich erhalten habe.
Aber er konnte es sich nicht versagen, schon am folgenden Tage allein dahin zurückzukehren. Das Wasser des Baches war ganz getrübt, und die Ufer desselben zerstampft durch die Füße der Ochsen, welche dort zur Tränke geführt waren, und die man am Morgen zwischen das Schlagholz auf die Weide getrieben hatte. Er trat etwas näher hinzu und sah, daß die Tiere auf seine Mühle getreten und sie so zerstampft hatten, daß nur noch wenig davon zu sehen war. Das Herz wurde ihm schwer darüber, und er bildete sich ein, daß an diesem Tage seinem Bruder irgend ein Unglück zustoßen müsse, und er lief bis nach la Priche, um sich zu überzeugen, daß ihm nichts Schlimmes widerfahren sei. Hier aber begnügte er sich damit, seinen Bruder von weitem zu betrachten, und zwar so, daß er selbst nicht gesehen werden konnte. Er hatte nämlich bemerkt, das es Landry nicht angenehm war, wenn er unter tags kam, weil dieser fürchtete, daß solch eine Störung bei der Arbeit seinen Herrn verdrießen könne. Da er sich geschämt haben würde zu gestehen, von welchen Gedanken gedrängt er herbei geeilt war, kehrte er ohne ein Wort zu verlieren, wieder um; er sprach Überhaupt mit niemanden darüber; erst sehr lange Zeit nachher that er dies.
Da seine Gesichtsfarbe blaß wurde, weil er wenig schlief und so zu sagen fast gar nichts aß, wurde seine Mutter sehr betrübt, und sie wußte nicht mehr, was sie thun sollte, um ihn zu trösten. Sie versuchte es, ihn mit sich zu nehmen, wenn sie in den Marktflecken ging, oder sie redete ihm zu, seinen Vater oder seinen Onkel zu begleiten, wenn diese zu den Viehmärkten gingen. Aber er nahm an nichts einen Anteil, und nichts konnte ihn mehr erfreuen. Ohne ihn etwas merken zu lassen, machte sich deshalb Vater Barbeau auf den Weg und versuchte es, den Vater Caillaud zu bereden die Zwillinge beide in seinen Dienst zu nehmen. Dieser aber gab ihm eine Antwort, die er selbst als begründet anerkennen mußte.
»Vorausgesetzt,« so ungefähr sprach der alte Caillaud, »ich würde sie eine Zeitlang alle beide in meinen Dienst nehmen, so könnte dies doch nicht von Dauer sein, denn wo man mit einem Diener genug hat, würde es für Leute unseres Schlages nicht gut thun, deren zwei in den Dienst zu nehmen. Wenn das Jahr herum wäre, würdet ihr immerhin wieder genötigt sein, für den einen eurer Zwillinge irgend einen anderen Dienst zu suchen. Und seht ihr denn nicht ein, daß Sylvinet nicht mehr so viel träumen würde, wenn er in einem Dienst wäre, wo er zur Arbeit gezwungen wäre? Dann würde er es machen