Krakatit. Karel Čapek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karel Čapek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754186558
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bis unter die Mäntel; es war öde und spät.

      »Gleich sind wir da!« sagte Tomesch laut. Die Droschke rollte nun etwas schneller über einen Platz und bog nach rechts ein. »Kannst du ein paar Schritte tun, Prokop? Ich helfe dir.«

      Mit Mühe schleppte Tomesch seinen Gast in den zweiten Stock hinauf. Prokop fühlte sich so leicht, als wäre er gewichtlos, und ließ sich fast die Treppe hinauf tragen. Tomesch trocknete sich schwer atmend die Stirn.

      »Ich bin wie eine Feder, nicht wahr?« fragte Prokop verwundert.

      »Ja, genau so!« brummte Tomesch erschöpft, während er die Wohnung aufschloß.

      Prokop kam sich wie ein kleines Kind vor, als Tomesch ihn entkleidete. »Meine Mutter«, begann er zu plaudern, »als meine Mutter . . . aber das ist schon lange her, der Vater saß am Tisch, und die Mutter trug mich zu Bett, stell dir das vor!«

      Dann lag er im Bett, bis ans Kinn zugedeckt, klapperte mit den Zähnen und sah zu, wie sich Tomesch beim Ofen zu schaffen machte und rasch einheizte. Er war den Tränen nahe vor Rührung, Trauer und Schwäche und schwatzte in einem fort; erst als er einen kalten Umschlag auf die Stirn bekam, beruhigte er sich. Dann blickte er sich still im Zimmer um; es roch nach Tabak und Frauen.

       »Du bist ein Lump, Tomesch!« begann er ernsthaft. »Immer hast du was mit Weibern.«

      Tomesch drehte sich nach ihm um. »Na und?«

      »Nichts. Was treibst du eigentlich?«

      Tomesch winkte ab. »Ein Hundeleben, mein Lieber. Kein Geld!«

      »Du bummelst.«

      Tomesch schüttelte nur den Kopf.

      »Schade um dich«, meinte Prokop voller Sorge. »Du könntest . . . Schau mich an, ich arbeite schon seit zwölf Jahren.«

      »Und was hast du davon?« wandte Tomesch schroff ein.

      »Hie und da doch was. Dieses Jahr habe ich Nitrodextrin verkauft.«

      »Wie teuer?«

      »Zehntausend. Dabei ist das doch gar nichts! Eine Dummheit, ein blödsinniges Knallpulver für Bergwerke. Aber wenn ich wollte –«

      »Fühlst du dich schon besser?«

      »Viel besser. Ich habe Methoden erfunden! Ein Cernitrat – das ist eine Sache! Und Chlor, Chlor, tetragrädigen Chlorstickstoff, der sich am bloßen Licht entzündet. Knipst eine Glühbirne an und . . . fft, päng! Aber das ist alles noch nichts.« Er streckte jäh seine abgezehrte, furchtbar verstümmelte Hand unter der Decke hervor. »Wenn ich was in die Hand nehme, dann – fühle ich die Atome rumoren wie in einem Ameisenhaufen. Jede Materie kribbelt anders, verstehst du?«

      »Nein.«

      »Das ist die Kraft – in der Materie. Die Materie ist von unvorstellbarer Kraft. Und ich . . . ich taste es förmlich, wie es drin wimmelt. Eine fantastische Energie hält alles zusammen. Sobald man es im Innern lockert, spaltet es sich auf – und bums! Alles ist Explosion. Jeder Gedanke ist eine Erschütterung im Gehirn. Wenn du mir die Hand reichst, fühle ich, wie etwas in dir explodiert. Einen solchen Tastsinn habe ich! Und ein Gehör! Überall braust es . . . wie ein Brausepulver, lauter winzige Explosionen. Es dröhnt mir im Kopf . . . ratatata . . .«

      »So«, sagte Tomesch, »und jetzt schluck das Aspirin.«

      »Ja. Ex-explosiv-Aspirin. Perchlorides Acetylsalizylacid. Das ist gar nichts! Ich habe exothermische Explosivstoffe gefunden. Jeder Stoff hat seine eigene Sprengkraft. Wasser . . . Wasser ist ein Sprengstoff. Erde, Luft – sind Sprengstoffe. Die Federn hier im Federbett sind Sprengstoffe. Vorläufig hat das alles nur theoretische Bedeutung. Ich habe Atomexplosionen ausgelöst, habe – habe eine Alphaexplosion herbeigeführt. Es zerfällt in Plus-Elektronen. Keine Thermochemie. De-struk-tion. Destruktive Chemie. Eine ungeheure Sache, Tomesch, rein wissenschaftlich! Ich habe Tabellen zu Hause . . . Wenn ich nur Apparate hätte! Ihr würdet staunen! Aber so habe ich nur meine Augen . . . meine Hände . . . Du wirst dich wundern, wenn ich's einmal niederschreibe!«

      »Willst du jetzt nicht schlafen?«

      »Ja. Ich bin – heute – so müde. Was hast du während der ganzen Zeit getrieben?«

      »Eigentlich nichts. Dahingelebt.«

      »Auch das Leben ist ein Sprengstoff. Der Mensch wird geboren und zerfällt – aus! Und wir glauben, es dauert Jahre. Du, mir scheint, ich – ich bringe da alles durcheinander?«

      »Durchaus nicht, Prokop. Vielleicht mache ich wirklich morgen Schluß; wenn ich nämlich kein Geld bekomme. Aber ist ja egal, schlaf jetzt!«

      »Wenn du willst – ich leih' dir etwas.«

      »Laß nur! Es würde ohnehin nicht reichen. Vielleicht, daß mein Vater . . .« Tomesch machte eine wegwerfende Handbewegung.

      »Siehst du, du hast noch einen Vater!« ließ sich Prokop nach einer Weile mit auffallender Wärme vernehmen.

      »Ja. Er ist Arzt in Teinitz.« Tomesch erhob sich und ging im Zimmer auf und nieder. »Mensch, ist das ein Elend, ist das ein Elend! Ich hab's satt. Aber scher dich nicht um mich! Ich werde schon – irgendwas unternehmen. Schlaf jetzt!«

      Prokop beruhigte sich. Mit halbgeschlossenen Augen sah er, wie sich Tomesch an den Tisch setzte und in Papieren kramte. Es tat ihm wohl, dem Knistern des Papiers und dem stillen Flackern des Feuers im Ofen zu lauschen. Der Mann saß, über den Tisch gebeugt, den Kopf in die Hand gestützt und atmete kaum. Prokop war es, als sehe er vom Bett aus seinen älteren Bruder, seinen Bruder Josef, wie er Elektrotechnik aus einem Buch lernt, weil er morgen die Prüfung ablegen soll. Und Prokop verfiel in fieberhaften Schlaf.

      3

      Ihm war, als hörte er den surrenden Lärm unzähliger Räder. »Das muß eine Fabrik sein«, dachte er und lief die Treppe hinauf. Da stand er vor einer großen Tür, an der auf einer Glastafel: Plinius zu lesen war. Er freute sich ungemein und trat ein. »Ist Herr Plinius zugegen?« fragte er ein Tippfräulein. »Er kommt gleich«, sagte das Fräulein. Da trat ein großer, glattrasierter Herr im Cutaway und mit riesigen Brillengläsern vor den Augen auf ihn zu und fragte: »Was wünschen Sie?«

      Prokop blickte neugierig in das ungewöhnlich ausdrucksvolle Gesicht des Mannes. Er hatte den Mund eines Engländers, eine zerfurchte Stirn, eine fingernagelgroße Warze auf der Backe und das Kinn eines Filmschauspielers. »Sind – sind – Sie – bitte – Plinius?«

      »Ja«, sagte der große Mann und wies mit knapper Geste auf sein Arbeitszimmer.

      »Ich bin . . . ich fühle mich . . . ungemein geehrt«, stotterte Prokop und nahm Platz.

      »Was wünschen Sie?« unterbrach ihn der hochgewachsene Mann.

      »Ich habe die Materie zertrümmert«, erklärte Prokop. Plinius tat nichts dergleichen; er spielte mit einem Stahlschlüssel und schloß die schweren Augenlider hinter den Brillengläsern.

      »Das verhält sich nämlich folgendermaßen«, begann Prokop überstürzt. »Al-al-alles zerfällt. Die Materie ist spröde, brüchig. Aber ich bringe es zuwege, daß sie plötzlich zerfällt. Durch Explosion! In kleinste Teile, Moleküle, Atome. Ich habe sogar schon Atome zertrümmert.«

      »Schade!« meinte Plinius überlegend.

      »Wieso schade?«

      »Schade, etwas zu zertrümmern. Auch um ein Atom ist es schade. Und weiter?«

      »Ich . . . ich spalte das Atom. Ich weiß, Rutherford hat bereits ähnliches . . . Aber das war nur eine Spielerei mit Strahlungen. Das ist nichts! Es muß im großen geschehen. Wenn Sie wollen, zertrümmere ich eine Tonne Wismut; dabei geht die ga-ganze Welt flöten. Wollen Sie?«

      »Warum sollten Sie das tun?«

      »Weil es . . . wissenschaftlich interessant ist«, antwortete Prokop verwirrt. »Einen Augenblick, ich weiß nicht, wie ich es