Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. G. Felix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738095289
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Augen ruhten auf einer Gestalt in einem langen schwarzen Mantel, die regungslos auf der anderen Seite der Schlucht stand und ihn anstarrte.

      Antilius konnte kein Gesicht nicht erkennen. Dort, wo dieses hätte sein müssen, war nur eine graue Masse, ein Dunstschleier, fast genauso wie der Nebel in der Schlucht.

      Mann ohne Gesicht. Er ist der Mann ohne Gesicht, der mich verfolgt, dachte Antilius. Er spürte, wie er von ihm angestarrt wurde, auch wenn der Blick des Fremden ihm verborgen blieb.

      »Was willst du von mir?«, fragte ihn der Mann ohne Gesicht auf der anderen Seite. Sein Mantel flatterte wild im Sturm.

      Antilius wusste es nicht. Er wollte antworten, doch er konnte seine Lippen nicht bewegen. Er bemühte sich, das Gesicht des Fremden zu erkennen. Doch es schwebte nach wie vor nur ein trüber Schleier auf dessen Schultern.

      Antilius hatte keine Ahnung, warum er hier war. Er fühlte sich unwirklich. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Körper und Geist waren wie gelähmt. Träumte er?

      Der Sturm, der an ihm zerrte, nahm an Intensität zu.

      »Wer bist du?«, fragte Antilius. Endlich gelang es ihm nach mehreren erfolglosen Versuchen zu sprechen, auch wenn es ihm schwerfiel.

      »Das weißt du doch. Du weißt, wer ich bin. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Es ist immer das Schicksal.«

      Das Jaulen des Sturms wurde lauter, und trotzdem konnte Antilius den Fremden problemlos verstehen. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn der Sturm zog ihn langsam aber energisch gen Abgrund.

      »Hast du keinen Namen?«, rief er hinüber.

      »Für dich bin ich der Mann ohne Gesicht«, sagte der Mann ohne Gesicht ruhig und ohne besonders laut zu sprechen.

      Antilius versuchte, sich vom Abhang wegzubewegen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht.

      »Warum bist du hier?«, wollte der Fremde wissen. »Antworte endlich!«

      »Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich weiß nicht einmal genau, wer ich bin«, sagte Antilius unsicher.

      »Aber ich weiß es. Ich kenne den Grund. Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß, was du vergessen hast. Soll ich es dir verraten, Antilius? Soll ich es tun? Möchtest du es wissen? Es könnte dir aber nicht gefallen. Du musst mich schon darum bitten, wenn du es wissen willst!«

      Antilius war verwirrt und schwieg. Seine Gedanken waren vernebelt. So wie dieser Ort hier.

      Der Mann ohne Gesicht wartete einen Moment, ehe er sprach: »Wenn du nicht weißt, was du eigentlich willst, dann kehre um!«

      Antilius war aber entschlossen, nicht zu gehen. Es war ein unerklärbarer und fester Wille. Nicht umkehren!

      »Nein«, sagte er automatisch.

      »Kehre um, Antilius! Verfolge nicht meinen Weg! Erspare dir Leid und Kummer. Vergiss alles, was dir einmal etwas bedeutet hat, und vergiss diejenigen, die du geliebt hast. Ich bitte dich, GEH!«

      »Ich werde nicht gehen!«

      Der Sturm wurde immer heftiger. Wie aus dem Nichts bildete sich plötzlich eine schwere Nebelwolke auf der Seite der Schlucht, auf welcher der Mann ohne Gesicht stand. Die Silhouette des Fremden verlor nun an Kontrast. »Du kannst nicht ermessen, was geschehen wird, wenn du nicht umkehrst. Höre auf mich, Antilius!«, rief er mit einer fast flehenden Stimme.

      »Ich werde nicht gehen. Ich kann nicht anders«, rief Antilius zurück, ohne zu überlegen, was er sagte.

      Der Mann ohne Gesicht schien noch einen Augenblick nachzudenken. Dann fällte er sein Urteil. »Du Narr! Wenn es soweit ist, dann werde ich dein Schicksal sein«, brüllte er. Seine Konturen verschwanden nun vollends in den Nebelschwaden.

      Antilius versuchte, den Fremden wieder aufzuspüren, als er plötzlich einen harten Stoß in den Rücken versetzt bekam.

      Panisch ruderte er mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch der Stoß war zu stark gewesen. Er sank langsam wie in Zeitlupe vornüber und blickte in den Abgrund. Der Nebel darin war fort. An seine Stelle war ein tiefes Schwarz getreten.

      Schwarz wie die Unendlichkeit.

      Antilius’ Kopf fuhr herum: Es war der Mann ohne Gesicht.

      Er war plötzlich hinter ihm und hatte ihn in den Abgrund gestoßen. Er wollte Antilius loswerden und floh.

      Er hat Angst vor dir! Er fürchtet sich vor dem, was in dir verborgen ist.

      Antilius konnte ihn nicht mehr verfolgen. Der Abgrund zog ihn in seinen Schlund.

      Und während er zwei leuchtende Punkte, die wie Augen aussahen, in dem Schwarz der Tiefe zu erkennen glaubte, überfiel ihn eine bittere Kälte.

      Er fiel.

      »Ich wollte Sie nicht beleidigen«, versicherte Antilius.

      »Ach, nein? Denken Sie, ich bin taub?«

      »Weswegen regen Sie sich so auf?«

      »Sie haben gesagt, ich hätte da wohl ein kleines Problem. Wobei Sie ‚kleines’ besonders betont haben.«

      »Das habe ich nicht.«

      »Haben Sie wohl!«

      »Nein!«

      »Doch!«

      »Also gut, vielleicht habe ich es ein wenig betont, aber ich habe damit auf keinen Fall auf Ihre Körpergröße angespielt.«

      »Aha! Sie geben es also zu!«, rief der aufgebrachte Sortaner. Sein beigefarbenes Fell, das seinen leicht ovalen und sehr stämmigen Körper bedeckte, sträubte sich.

      »Ich denke, es hat keinen Sinn, mit Ihnen weiter zu diskutieren«, sagte Antilius genervt.

      »Ach! Vorhin hat es Ihnen ja auch nicht an Wortgewandtheit gemangelt, als Sie sich über mich lustig gemacht haben.« Der Sortaner wandte sich mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck ab und widmete sich seinem Fernrohr, das er die ganze Zeit über in seinen kleinen plumpen Händen hielt. Er schaute übertrieben konzentriert hindurch. Doch irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. »Verdammt, dieses Ding ist schon wieder kaputt! Dabei habe ich es gerade erst reparieren lassen«, fluchte das etwa einen Meter große Wesen.

      Antilius war aber sofort aufgefallen, dass das Fernrohr nicht beschädigt war. Das Problem bestand schlicht darin, dass der Sortaner vergessen hatte, die Schutzkappe, die aus feinem Leder gefertigt war, abzunehmen. Antilius seufzte leise, überlegte einen Augenblick und fasste einen Entschluss. Beherzt griff er nach der Abdeckung und entfernte sie. Jetzt hatte der Sortaner einen fantastischen Blick von der Aussichtsplattform des alten, aber majestätischen Schiffes, auf dem sie sich beide gestritten hatten.

      Eigentlich war es kein richtiges Schiff. Zumindest nicht für Antilius. Vielmehr war es ein gewaltiger, fast neunzig Meter hoher Baum, der stehend über das weite Meer zu schweben schien. Diese Art von Schiff nannte man auch Althan. Der Stamm hatte knapp über dem Wurzelwerk einen Durchmesser von fast neun Metern. In seiner ausladenden Krone trug er Dutzende Baumhäuschen, die als Quartiere für die Passagiere dienten. Sie waren durch unzählige Trassen über mehrere Ebenen miteinander verbunden. Diese schmalen Brücken wirkten wie ein unübersichtliches, dreidimensionales Spinnennetz, das die gesamte Krone des schwimmenden Baumes durchzog. Es waren besondere Bäume, Immerfestholzbäume, die nur auf der ersten Inselwelt Arbrit gediehen, und nur sehr wenige von diesen waren geeignet zu schwimmen und damit zu einem Althan zu werden.

      Ein riesiger und äußerst robuster Wurzelballen diente als Schwimmkörper. Er bot ein optimales Gegengewicht zum Rest des Baums, der aus dem Wasser ragte. Der Stamm war innen hohl, sodass der gesamte Baum genügend Auftrieb bekam. An seinem gewaltigen Stamm waren auf zwei sich gegenüberliegenden Seiten je ein halbes Dutzend gigantische Segel gespannt. Jedes einzelne Tuch hatte eine bestimmte Funktion in der Art, den Wind einzufangen, und jedes