Ohne jegliche Erwartung traf Finley pünktlich zur vereinbarten Zeit im Crystell ein. Kaum, dass er am letzten freien Tisch Platz genommen hatte, zog Katrin seine Aufmerksamkeit auf sich, die den Raum betrat und lächelte, als sie Finleys Blick auffing. Sofort erhob er sich und rückte ihr einen Stuhl zurecht, während sie quer durch den Raum auf ihn zuschritt.
Sie sah bezaubernd aus in ihrem hübschen, knielangen Kleid aus veilchenblauer Seide, wozu sie High-Heels in derselben Farbe trug. Das Haar hatte sie hochgesteckt. Die Perlenohrringe unterstrichen ihre elegante, dennoch zurückhaltende Erscheinung. „Guten Abend, Mister McGarret“, hauchte Katrin, ehe sie sich setzte. „Schön, dass Sie gekommen sind.“ Sie klang beinahe schüchtern. Scheinbar hatte sie nun doch ein wenig Respekt vor ihrer eigenen Courage und das weckte Finleys Beschützerinstinkt.
„Wenn man auf so einfallsreiche Art gefragt wird, kann man nicht anders“, sagte Finley und nahm ihr gegenüber Platz. „In Zeiten von E-Mails haben Telegramme Seltenheitswert. Ich mag so was.“ Ob er sich damit einen Gefallen tat? Seine letzte Verflossene bezeichnete ihn als altmodisch und langweilig. Gut, sie war erst neunzehn gewesen …
„Ich auch“, hauchte Katrin errötend. „Meine Eltern schwelgen oft in alten Zeiten und hören sich noch heute Musikkassetten an.“ Im Nu waren sie in ein Gespräch über frühere Zeiten vertieft. Sprachen über die Welt im Allgemeinen und fachsimpelten, wie Donald Trump die Wahl zum amerikanischen Präsidenten gewinnen konnte. Zwischendurch ließen sie sich das ausgezeichnete Sechsgangmenü schmecken. Vom Beefsteak Tatar bis hin zu den Langusten oder der Eiscreme mit Nüssen, Nougatschokolade und Passionsfrüchten.
Als Gentleman beglich Finley natürlich die Rechnung, obwohl Katrin dagegen war. Schließlich habe sie ihn eingeladen, beharrte sie, was er lachend überging, bis sie plötzlich beide schwiegen und sich im Kerzenschein tief in die Augen schauten. Das taten sie auch in der intimen Weinbar zwei Straßen weiter, wo sie den Abend ausklingen ließen. Und als sie zum Evergreen It’s Impossible von Perry Como miteinander anstießen, war es tatsächlich unmöglich, sich dem Zauber dieser Frau zu entziehen.
Das war der Beginn ihrer Romanze. Zum ersten Mal seit Langem hatte Finley das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Katrin teilte viele seiner Interessen und Ansichten, vor allem konnte sie zuhören. Das hatte er selten erlebt. Ferner lachten sie viel und genossen in den Abendstunden die Ruhe am Steg, wo sie sich an den Händen hielten und gemeinsam schwiegen. Auch Katrin brauchte kein pulsierendes Leben, sondern zog Spaziergänge vor, ein gutes Gläschen Wein und ein nettes Gespräch. Vor allem ihre Tiefgründigkeit gefiel ihm und dass sie sich für ihn interessierte. Nicht für sein Geld oder die Villa. Sie passten wunderbar zusammen, dennoch dauerte es einige Wochen, bis sie auch im wahrsten Sinne des Wortes ein Liebespaar wurden. Katrin war sehr verletzlich, erzählte nur wenig aus ihrer Vergangenheit oder von ihrer Scheidung, die kein Jahr zurücklag. Wenn sie das Thema dennoch anschnitten, spürte man deutlich, dass sie ziemlich gelitten hatte. Irgendwann erfuhr er, dass es ihr kanadischer Mann mit der Treue nicht so genau genommen hatte. Unzählige Male betrog er sie, bevor sie sich von ihm trennte. Ja, auch das einte sie. Eine unglückliche Liebe, die viele Wunden hinterlassen hatte.
Daran musste Finley denken, als er mit dem Laptop auf dem Schoß im Wohnzimmer saß und selbstvergessen auf die vertrauten Bilder Dublins schaute. Müde rieb er sich die Augen, hob den Blick und ließ ihn durch den Raum schweifen, den er vor kurzem neu eingerichtet hatte. Im Stil des Mid-Century Modern. Banausen wie seine Haushaltshilfe Evelyn hielten das für Altholz oder billigen Plunder. Finley hingegen mochte die klaren Linien und die Funktionalität. Insbesondere verehrte er den dänischen Designer Jacobsen, von dem er sogar einige Originale wie den roten Egg-Chair besaß. Das dazugehörige Sofa erstand Finley ebenso. Aufgrund der geringen Stückzahl lag dessen Marktwert momentan bei fünfzigtausend Euro. Aber das musste er keinem erzählen. Auch nicht, dass er sich wie jetzt manchmal virtuell durch Dublin schlich und sich fragte, ob Maggie oft auf der Half Penny Bridge stand oder beizeiten über die Hafenpromenade schlenderte. Wo sie wohnte oder ausging. Sogar die Citizen-Bank hatte er gefunden und auch dieses Bild im Ordner abgespeichert, den er vor Jahren angelegt hatte.
„Das Essen ist gleich fertig, Boss“, verkündete Evelyn in gewohnt launiger Art und schlurfte zur Tür herein. Sam hatte nicht zu viel versprochen. Diese Frau müsste einen Michelin-Stern für ihre Kochkunst bekommen. Auch beim Rest war Sam nahe bei der Wahrheit geblieben. Evelyn hatte eine rustikale Art, was sich auch an ihrer Kleidung zeigte. Kopftuch, Kittelschürze und stets rote Backen erinnerten stark an eine historische Bauersfrau, die gerade vom Kartoffelfeld kam. Nebenbei war sie tiefgläubig und ging jeden Sonntag zur Messe.
„Was gibt es denn?“
„Gulasch und Klöße.“ Mit verkniffenem Gesicht schaute sie zum neuen Sofa. „Wie jeden Samstag. Das müssten Sie inzwischen wissen.“ Abgesehen von einigen Abstrichen durfte sich Finley nicht beklagen. Evelyn verwöhnte ihn nach Strich und Faden, obwohl sie das nicht einmal unter Folter zugeben würde. Ebenso wenig, dass sie ihn mochte. Das spürte er jedoch, wie den weichen Kern unter ihrer rauen Schale. Vielleicht betrachtete sie ihn als den Sohn, den sie nie hatte, da ihr keine eigene Familie vergönnt gewesen war. Ihr Mann starb nach nur sechs Jahren Ehe. Seitdem war sie alleingeblieben und bewohnte nunmehr das Souterrain seiner Villa.
„Ich wollte mich bloß mit Ihnen unterhalten, Evelyn“, zog er sie auf.
„Über Gulasch!“, raunzte sie und schielte an ihm vorbei. Vermutlich zu Zeus. Als sie die Statue zum ersten Mal erblickt hatte, waren ihr kurz die Gesichtszüge entgleist. „Genug geplaudert. Sie sollten etwas essen, schließlich haben Sie heute nichts gefrühstückt.“ Und da war sie, eine dieser versteckten Liebenswürdigkeiten …
Finley schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor zwölf. Seufzend warf er einen letzten Blick auf die Half Penny Bridge, schloss den Laptop, stellte ihn auf den Tisch und erhob sich. „Ich möchte auf Katrin warten. Sie wollte nach dem Einkaufsbummel vorbeikommen.“ Samstags unternahm sie gerne etwas mit ihren Freundinnen.
„Wie Sie wünschen. Aber wenn die Klöße versteinern wie diese schrecklichen Weihnachtskekse von Ihrer Tante Minnie, bin ich zuletzt schuld, Mister McGarret“, verteidigte Evelyn ihren guten Ruf als Küchenfee. „Sie wissen, wie ich es hasse, wenn mein Essen nicht pünktlich auf den Tisch kommt.“
„Natürlich.“ Finley schloss grinsend das gekippte Fenster. Sonnenlicht flutete über den Garten, der nicht einmal unter Sams Fittichen ein solches Blütenmeer gezeigt hatte. Evelyn schien mit einem grünen Daumen geboren zu sein. „Sie sind mir eine große Hilfe, wissen Sie das eigentlich?“ Lächelnd wandte er sich zu ihr um.
„Haben Sie Pott geraucht?“, fragte Evelyn postwendend und runzelte die Stirn. „Schließlich sind Sie im Gegensatz zu mir nicht gerade für Gefühlsduseleien berühmt.“ Diese Frau war ähnlich gepolt wie Minnie, die sich auch gerne mit Attributen schmückte, die man mit der Lupe suchen musste.
„Ich schätze, dass Katrin einen guten Einfluss auf mich hat.“
Evelyn schob die faltigen Hände in die Schürzentaschen. Auf ihrer schmalen Nase zeigte sich ein kleiner roter Fleck, da sie im Normalfall eine Brille trug. „Haben Sie deshalb dieses schreckliche Sofa gekauft, auf dem ich nicht einmal sitzen darf?“ Die kleine, aber feine Kollektion, stand wie ein Museumsstück in der Ecke. Genauso wollte Finley seine Errungenschaft auch behandelt wissen. Anschauen, jedoch nicht anfassen, weswegen er seine alte Couch behalten hatte.
„Dazu ist das Sofa auch nicht gemacht, Evelyn.“
„Das predigen Sie ständig, aber dann sollte das Ding nicht aussehen wie eins. Ich will’s nur noch einmal gesagt haben. Für mich ist und bleibt es Krempel.“
„Katrin gefällt das Sofa, und mir ebenfalls.“
Evelyns buschige Augenbrauen wurden beinahe zu einem Strich. „Sie mögen die Kleine.“
„Natürlich. Sonst würde ich sie kaum bitten, bei mir einzuziehen.“
Seine Haushälterin nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. „Trotzdem …“,