Todesfährte. Moritz Hirche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Moritz Hirche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738032949
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hatte. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich an den wackligen Holztisch am Fenster. Er stellte neben dem Bett und einem kleinen Schrank das einzige Mobiliar im Raum dar. Die Tischplatte war abgenutzt und zerkratzt.

      Wie viele frustrierte, gelangweilte Menschen haben an diesem Tisch gesessen?

      Er entfernte den Kronkorken. Zischend entwich Kohlensäure aus der Flasche. Das Bier hatte ihm sein Kommilitone Silvio Meier mitgebracht. Der tiefe Schluck war eine Erlösung. Er sah aus dem kleinen Fenster über die Baumwipfel, um die wie immer zu dieser Tageszeit unermüdlich einige Fledermäuse kreisten. Inzwischen war die tiefschwarze Nacht hereingebrochen, während der Regen mit gleichbleibender Intensität vom Himmel rauschte. Die unablässige Geräuschkulisse wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrückend. Das Gewitter, das sich am Horizont angekündigt hatte, war wider Erwarten in der Ferne vorbeigezogen. Im Wald hätte man die Hand vor Augen nicht erkennen können.

      Schnell leerte er die erste Flasche. Im Begriff, die zweite zu öffnen, hielt er unvermittelt inne. Bereits in den letzten Minuten war er das Gefühl nicht losgeworden, etwas vergessen zu haben. Er hatte es nicht vergessen, er hatte es verdrängt. Der Keller war von Beginn an ein Ort des Unbehagens für ihn geblieben. Harnisch überlegte kurz. Es war eine Sache, das Licht die Nacht über brennen zu lassen. Der Keller verfügte jedoch mittels einer Treppe über einen separaten Ausgang zum Hof. Diese stand tagsüber für die Besucher offen. Da er sie nicht geschlossen hatte, musste sie das auch jetzt noch sein. Nein, es half nichts. Er musste noch einmal dort hinuntergehen.

      In den Keller.

      Seufzend stellte er die Bierflasche auf den Tisch, griff nach Schlüssel und Taschenlampe. Die weichen Gummisohlen der Sportschuhe dämpften die Geräusche der Schritte auf den engen Treppenstufen. Im Erdgeschoss angekommen tauchte der Lichtschein aus dem Kellerabgang die eine Seite der dunklen Eingangshalle in mattes Licht. Es wurde von den aufgestellten Rüstungen reflektiert. Die grob gezimmerte Tür stand offen. Harnisch blieb stehen. Er hatte fest geglaubt, die Tür an diesem Tag nicht geöffnet zu haben, konnte sich aber nicht genau erinnern. Doch, er war sich sicher. Kein Besucher hatte sich die Gewölbe heute angesehen. Das konnte er nachvollziehen, waren es doch hauptsächlich Familien gewesen. Kurz neben der Tür war in Augenhöhe ein unauffälliges Schild angebracht. Darauf wurde empfohlen, diese Räumlichkeiten mit Kindern nicht zu besichtigen.

      Unsägliches Leid hatte sich dort unten zugetragen. Viele große und kleine, inzwischen verrostete Instrumente unterschiedlicher Form lagen ordentlich aufgereiht. Sie waren intelligent konstruiert, um den Opfern bei möglichst lang ausgedehnter Lebensdauer Schmerzen zuzufügen, die den Bereich der Vorstellungskraft überschritten hatten. Wahnsinn oder Ohnmacht mussten die wie von einem Metzger aufgeschnittenen, anschließend von grausamen Spezialisten gequälten Opfer bereits lange vor dem gnädigen Moment des Todes in eine andere Welt geführt haben. Allerlei Pressen und Zangen zeugten von scheußlichem Einfallsreichtum. Vor Hunderten von Jahren waren wahrscheinlich entsetzliche Schreie von den dicken Wänden widergehallt. Zur morbiden Faszination der Touristen war alles weitgehend im Originalzustand belassen. Sogar das tief in den Kellerboden eingelassene Loch, in dem die vermeintlichen Verschwörer verdurstet oder bei lebendigem Leib verfault waren, war unversehrt.

      Harnisch war im Begriff die steinerne Kellertreppe zu betreten, als er von unten ein leises, metallisches Geräusch wahrzunehmen glaubte. Unsinn, dachte er, spürte aber wie sich sein Magen zusammenzog. Er stand am Rand der Treppe und lauschte angestrengt in die Tiefe. Nichts als Stille und das kaum hörbare Rauschen des Regens, der unablässig gegen das massive Mauerwerk peitschte. Er blickte hinunter, sah aber nur eine andere Steinwand, da die Treppe halbkreisförmig nach unten führte. Sekunden verharrte er in dieser Position. So sehr er die Sinne anstrengte, konnte er doch keinen Laut mehr ausmachen.

      Sicher, sich getäuscht zu haben, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Alles wirkte normal. Tastend setzte er den Weg fort, bis sich der Blick auf die beiden Kellerräume öffnete. Das helle Licht der Neonröhren war ihm schon beim ersten Mal unpassend erschienen, ermöglichte den Besuchern aber die Wahrnehmung jedes grausamen Details der Folterstätte. Das gleichmäßige Flackern im hinteren Raum erschreckte ihn nicht. Es deutete lediglich auf den notwendigen Austausch einer der Leuchtstoffröhren hin. Er würde es morgen erledigen, sofern irgendwo Ersatz zu finden wäre.

      Ein leichter Luftzug erinnerte ihn daran, weshalb er hier war. Die Tür zum Hof befand sich am Ende des zweiten Raumes. Er durchquerte den kurzen Gang zwischen den beiden Verliesen, fand sie erwartungsgemäß geöffnet vor. Im Gegensatz zu den übrigen Türen der Burg war sie nachträglich eingebaut worden und bestand aus schwerem Metall. Für einen Moment trat er nach draußen. Der kurze, gemauerte Aufgang endete im Hof. Wassertropfen schlugen ihm scharf ins Gesicht. In der Schwärze konnte er gerade einmal die Umrisse der Burg erkennen. Schnell trat er in die Helligkeit zurück und zog die Tür zu, bis das Schloss einrastete. Ein Knall ließ ihn zusammenzucken. Der Luftzug hatte anscheinend die obere Kellertür zugeschlagen. Das war sonst nie geschehen, doch da hatte auch kein starker Wind geherrscht.

      Nicht so schlimm.

      Er hatte den Schlüsselbund bei sich und würde sie wieder öffnen können. Dennoch fühlte er sich augenblicklich wie gefangen. Als Harnisch sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, blieb sein Blick an einem der hölzernen Tische hängen. Sie muteten wie Werkbänke an. Nur dass sie vor Jahrhunderten einem anderen Zweck gedient hatten. Das zu bearbeitende Material war menschliches Fleisch gewesen. Zur Veranschaulichung waren darauf in regelmäßigen Abständen die eisernen Folterinstrumente gleich Werkzeugen ausgelegt. Manche ähnelten Messern. Andere schienen der Form von Zangen oder Korkenziehern entlehnt worden zu sein. Die Reihe der Grausamkeiten wies jetzt deutliche Lücken auf. Mehrere der Instrumente fehlten. Der Schreck fuhr Harnisch durch den gesamten Körper. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Das Wahrscheinlichste schien ihm, einer der Touristen hätte einige schaurige Erinnerungsstücke gestohlen.

      Schließlich lagen sie lose auf den Tischen.

      Er wünschte sich, die Erklärung würde ihn beruhigen. Leider konnte sie es nicht. Zu sicher war er sich, morgens alles an seinem Platz gesehen zu haben. Vielleicht hatte sich jemand heimlich tagsüber hier herunter geschlichen? Jeder Erklärungsversuch schien ihm unwahrscheinlich, ließ ihn nur nervöser werden.

      Erst einmal hinaus hier, das Licht löschen.

      Morgen würde sich schon alles klären lassen. Seine Hand berührte bereits den Lichtschalter, als eine plötzliche Eingebung ihn herumfahren ließ. Irgendetwas anderes schien ebenfalls nicht zu stimmen.

      Sekundenlang ruhte sein Blick auf der Öffnung im Boden, die sich wenige Meter neben ihm auftat. Es war der Eingang zu der kleinen Höhle, in der vor Jahrhunderten die Gefangenen ihrem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Normalerweise war das Loch mit einer runden Holzscheibe verschlossen. Damals sollten die absolute Einsamkeit und das Fehlen jeglichen Lichtes die Inhaftierten noch vor ihrem Todeskampf in den Wahnsinn treiben.

      Das Loch im Boden war allzu leicht zu übersehen. Es maß im Durchmesser ungefähr einen dreiviertel Meter. Jetzt lag die Holzscheibe neben dem Eingang. Mirko Harnisch fühlte seine Schläfen pulsieren, als er sich der schwarzen Öffnung näherte. Sein Herz schlug rasend. Die rechte Hand verkrampfte sich um die Stabtaschenlampe. Der Blick drang in den schmalen Abgrund, konnte in der dort herrschenden Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Deckenbeleuchtung vermochte die enge, mehrere Meter nach unten führende Höhle nicht zu erhellen. Kurz überlegte er, was er dort zu sehen erwartete. Er fand keine Antwort und schaltete die Taschenlampe ein. Der fokussierte Lichtstrahl glitt über die unbearbeitete Wand in die Tiefe. Er beugte sich über die Öffnung. Das Licht erreichte ebenen Sand, den Boden der Höhle.

      Der Blick auf die verzerrte Grimasse traf Harnisch wie ein Schlag in den Magen. Der Strahl fiel auf eine blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Entsetzliche Verstümmelungen nahmen ihm alles Menschliche. Die fehlenden Lippen gaben ihm einen furchtbaren Ausdruck, der an ein teuflisches Grinsen erinnerte. Die Nase war als blutiger Brei in der Mitte des Kopfes nur noch zu erahnen. Die Ohren fehlten ebenfalls. Das Schrecklichste aber waren die leeren Augenhöhlen.

      Schwer atmend kämpfte Harnisch mit aufkommender Übelkeit. Die Gedanken überschlugen sich. In seinen Emotionen vermischte sich