Zärtlich ist die Nacht. F. Scott Fitzgerald. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: F. Scott Fitzgerald
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174425
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ihre Knie hin und her – sie war die Verkörperung all der unbefriedigten Frauen, die vor hundert Jahren Byron geliebt hatten. Trotz des tragischen Erlebnisses mit dem Gardeoffizier war etwas Onanistisches um sie.

      »Es ist mir nicht wegen der Verantwortung«, erklärte sie, »aber ich schwebe in der Luft. Wir haben noch nie etwas Derartiges in der Familie gehabt – wir wissen, daß Nicole irgendeinen Schock gehabt hat, und meiner Meinung nach war ein junger Mann im Spiel, aber wir wissen es nicht genau. Vater sagt, er hätte ihn niedergeknallt, wenn er dahintergekommen wäre.«

      Das Orchester spielte »Arme Butterfly«; der junge Marmora tanzte mit seiner Mutter. Es war eine Melodie, die ihnen allen ziemlich neu war. Dick lauschte und betrachtete die Schulter von Nicole, indes das junge Mädchen mit dem älteren Marmora plauderte, dessen Haare weiß gesprenkelt waren wie die Tastatur eines Klaviers; er mußte an die sanfte Rundung einer Geige denken, und dann dachte er an die Schmach, an das Geheimnis. O Butterfly, die Minuten werden zu Stunden –

      »Wissen Sie, ich habe einen Plan«, fuhr Baby mit einer gewissen Strenge fort. »Vielleicht wird er Ihnen völlig unausführbar erscheinen; aber es heißt, daß Nicole noch ein paar Jahre unter Aufsicht sein muß. Ich weiß nicht, ob Sie Chicago kennen –«

      »Nein.«

      »Also, es gibt den nördlichen und den südlichen Stadtteil, und beide sind sehr verschieden voneinander. Der Norden ist schick und so, und wir haben immer dort gelebt, zum mindesten viele Jahre lang; aber eine Menge alter Familien, alter Chicagoer Familien, wenn Sie wissen, was ich damit meine, lebt immer noch im südlichen Stadtteil. Dort befindet sich die Universität. Ich glaube, manche Menschen finden es langweilig, auf jeden Fall aber ist es dort anders als im Norden. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?«

      Er nickte. Mit einiger Willensanstrengung war er imstande gewesen, ihr zu folgen.

      »Nun haben wir natürlich eine Menge Beziehungen dorthin – Vater hat Einfluß auf die Besetzung von Lehrstühlen und die Dotierung der Professoren an der Universität, und ich hatte gedacht, wenn wir nun Nicole nach Hause mitnehmen und mit den Leuten zusammenbringen würden – sehen Sie, sie ist ziemlich musikalisch und spricht so viele Sprachen – was könnte ihr, in ihrer Lage, Besseres passieren, als daß sie sich in irgendeinen guten Arzt verliebt –«

      Eine plötzliche Heiterkeit durchströmte Dick: Warrens hatten die Absicht, Nicole einen Arzt zu kaufen. »Haben Sie einen netten Arzt, den Sie uns ablassen können?« Es hatte keinen Zweck, sich über Nicole Gedanken zu machen, solange ihre Familie in der Lage und imstande war, ihr einen netten, jungen frischgebackenen Arzt zu kaufen.

      »Aber wo kriegen Sie den Arzt her?« fragte er automatisch.

      »Es muß doch eine Menge geben, die auf eine solche Chance fliegen.«

      Die Tänzer waren zurückgekommen, aber Baby flüsterte hastig:

      »Das ist der Plan, den ich im Sinn habe. Aber wo ist Nicole? Sie ist irgendwohin gegangen. Ist sie oben in ihrem Zimmer? Was muß ich jetzt tun? Ich weiß nie, ob es sich um etwas Harmloses handelt oder ob ich auf die Suche nach ihr gehen soll.«

      »Vielleicht will sie nur allein sein – Menschen, die viel allein waren, gewöhnen sich an die Einsamkeit.« Er hielt inne, als er merkte, daß Fräulein Warren nicht zuhörte. »Ich werde mich nach ihr umsehen.«

      Im Augenblick war die Welt draußen von Nebel verhüllt, wie ein Frühling hinter zugezogenen Vorhängen. Alles Leben konzentrierte sich in der Nähe des Hotels. Dick ging an Kellerfenstern vorbei, hinter denen Hotelpagen auf Bettkästen saßen und bei einem Liter spanischem Wein Karten spielten. Als er sich dem Promenadenweg näherte, fingen die Sterne an, über den weißen Gipfeln der hohen Alpen zu erscheinen. Auf dem hufeisenförmigen Pfad, von dem aus man den See überblicken konnte, stand eine Gestalt bewegungslos zwischen zwei Kandelabern; es war Nicole, und er ging schweigend quer über den Rasen auf sie zu. Sie wandte den Kopf mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: »Da sind Sie ja«, und eine Sekunde tat es ihm leid, daß er gekommen war.

      »Ihre Schwester war unruhig.«

      »Oh!« Sie war daran gewöhnt, beaufsichtigt zu werden. Sie bemühte sich, eine Erklärung zu geben: »Manchmal macht es mich etwas – es wird mir etwas zuviel. Ich habe so still gelebt. Diese Musik heute war zuviel. Ich hätte am liebsten geweint –«

      »Das verstehe ich.«

      »Es war überhaupt ein furchtbar aufregender Tag.«

      »Ich weiß.«

      »Ich möchte kein Spielverderber sein – ich habe den Menschen genug Mühe verursacht. Aber heute abend hatte ich das Bedürfnis wegzugehen.«

      Plötzlich fiel es Dick ein – so wie es vielleicht einem sterbenden Mann einfällt, daß er vergessen hat zu sagen, wo sich sein Testament befindet –, daß Nicole von Dohmler und den gespenstigen Generationen vor ihm zu einem neuen Menschen gemacht worden war; es fiel ihm auch ein, daß es sehr vieles gab, was ihr gesagt werden mußte. Aber nachdem er diese Weisheit innerlich zu Protokoll genommen hatte, strich er die Segel vor der Macht des Augenblicks und sagte:

      »Sie sind ein reizendes Geschöpf – bleiben Sie Ihrem eigenen Urteil über sich selbst treu.«

      »Gefalle ich Ihnen?«

      »Freilich.«

      »Würden Sie –«

      Sie schlenderten dahin, dem dunklen Teil des Hufeisens zu, der zweihundert Meter über ihnen lag. »Wenn ich nicht krank gewesen wäre, würden Sie – ich meine, wäre ich ein Mädchen von der Art gewesen, wie Sie es hätten – ach was, Sie wissen, was ich meine.«

      Nun packte es ihn doch, und eine ungeheure Unvernunft beseelte ihn. Nicole war ihm so nah, daß er fühlte, wie sein Atem schneller ging; wieder jedoch kam ihm seine Schulung zu Hilfe und äußerte sich in einem jungenhaften Lachen und einer abgedroschenen Bemerkung.

      »Sie machen sich unnütze Gedanken, meine Liebe. Ich habe einen Mann gekannt, der verliebte sich in seine Krankenschwester –« Die Geschichte plätscherte dahin, begleitet von dem Geräusch ihrer Schritte. Plötzlich unterbrach ihn Nicole in kurzem, knappem Chicago-Jargon: »Scheibenkleister!«

      »Das ist ein sehr ordinärer Ausdruck.«

      »Na, und?« brauste sie auf. »Sie meinen, ich hätte keinen Verstand – bevor ich krank wurde, hatte ich keinen, aber jetzt ist es anders. Und wenn ich nicht merken würde, daß Sie der bezauberndste Mann sind, der mir je begegnet ist, müßten Sie mich immer noch für verrückt halten. Es ist mein Pech, schön – aber tun Sie nicht so, als wüßte ich nichts – ich weiß über Sie und mich genau Bescheid.«

      Dick war doppelt im Nachteil. Er erinnerte sich an die Bemerkung des älteren Fräulein Warren über die jungen Ärzte, die man in den Viehhöfen der Intelligenz in Süd-Chicago käuflich erwerben konnte, und wappnete sich augenblicklich mit Widerstand.

      »Sie sind ein entzückendes junges Ding, aber ich könnte mich nicht verlieben.«

      »Sie wollen mir nur keine Chance geben.«

      »Waaas?«

      Die Unverfrorenheit, das Geltendmachen von Besitzrechten, das darin enthalten war, verblüfften ihn. Da ihm Anarchie fremd war, konnte er sich keine Chance vorstellen, auf die Nicole Warren Anspruch hätte erheben können.

      »Geben Sie mir jetzt eine Chance.«

      Die Stimme wurde leise, tauchte in ihre Brust zurück und breitete einen festen Schild um ihr Herz, als sie ihm nahe kam. Er spürte die jungen Lippen; erlöst seufzend lehnte sie sich in den Arm, der an Kraft zunahm, während er sie hielt. Jetzt gab es für Dick ebenso wenig Pläne mehr, als wenn er eigenmächtig eine unlösliche Mixtur aus zusammengehörigen und untrennbaren Atomen hergestellt hätte. Man konnte sie ganz und gar ausschütten, doch niemals konnten sie wieder in eine Atomskala zurückgegliedert werden. Als er das Mädchen hielt und spürte, und als sie mit Lippen, die ihr selbst fremd schienen, sich ihm mehr und mehr näherte – erstickt und