„Ich habe doch gar keinen Knoten gespürt, wie kann das sein?“, erinnerte ich mich, fragend eingeworfen zu haben. Die Erklärung von Dr. Eisenring war, dass dieser etwas tiefer säße und zudem flacher als normal sei. Mein Arzt kündigte mir weitere Untersuchungen an, um ganz sicherzugehen.
Es war einfach nicht zu fassen in diesen Minuten der Offenbarung eines Brustkrebsverdachts, denn ich verlor immerzu die Konzentration, dem Arzt zu folgen. Auch hätte ich mehr Fragen stellen können, denn Dr. Eisenring hatte sich bei mir während des Aufklärungsgesprächs stets erkundigt, ob ich ihm folgen könne. Ich nickte zwar, aber es legte sich ein dunkler Schleier über meinen Verstand. Die Fragen fallen einem zudem auch meist erst später ein. Im Sprechzimmer ermahnte ich mich immer wieder selbst, dass ich mich nun wirklich zusammenreißen musste. Wie damals, als ich mir kurz vor der Hochzeit meines Cousins Daniel den Arm verbrannt hatte und mich trotzdem in das enge Kleid mit Ärmeln zwängen musste. Das hatte den ganzen Tag wahnsinnig gebrannt. Dennoch war ich eine tapfere Kriegerin. Die Gäste, Freunde und Verwandten hatten nichts bemerkt, aber auch rein gar nichts. Nur mein Uwe wusste es und hatte mir unentwegt verschmitzt zugelächelt. Eine echte Kriegerin hätte ihm dafür natürlich im Nu mit der Keule eins übergebraten, aber ich bin eben eine Kriegerin des Schmerzes.
Ich bat Herrn Dr. Eisenring, mir alles noch einmal genau zu erklären, und hatte das Gefühl, dass ich nun mehr verstanden hatte. Dennoch saß der Schock so tief, dass ich mich völlig benommen fühlte. Ich wünschte mir so sehr, dass Uwe bei mir wäre, und fühlte mich schrecklich alleingelassen in diesem Moment. Ich war Uwe deswegen nicht böse, dass er nicht anwesend war, vielmehr war ich es nur von ihm gewöhnt gewesen, dass er mein Fels in der Brandung war, wenn ich schlechte Nachrichten erhalten hatte. Uwe konnte rein gar nichts dafür, und schließlich ging ich oft allein zum Arzt. Es war einfach nur das Gefühl des Alleinseins, und dies im gesamten Universum, während man selbst auf einer Art Richterbank saß und sein Urteil abgewartet hatte.
Kapitel 2
Ich liege am späten Abend nach dem heutigen Arztbesuch im Bett und versuche, mir über die heutigen Ereignisse klar zu werden. Uwe schläft friedlich neben mir. Ich habe als Grund für meine geistige Abwesenheit Probleme im Büro vorgeschoben und konnte ihm noch nicht erzählen, was ich bereits wusste. Sicherlich hätte er es mir nicht geglaubt. Uwe ist nämlich sehr feinfühlig. Dies versteckt er zwar hinter seinen sarkastischen Sprüchen und seiner manchmal etwas groben Art, aber er hat ein genaues Gespür dafür, was in mir vorgeht. Darum, nehme ich an, hatte er auch nicht nachgefragt. Er weiß ganz genau, wann er nachfragen sollte und wann er mich in Ruhe lassen muss. Dass ein Verdacht mich betreffend aufgekommen ist und dass weitere Untersuchungen bevorstehen. Hatte ich vielleicht nur Angst, es ihm zu erzählen? Uwe konnte ich schließlich alles erzählen, doch vermutlich wollte ich es selbst nicht wahrhaben. Würde ich es ihm erzählen, dann wäre das Geschehen echt gewesen, und im Moment kam es mir vor, als wäre alles weit, ganz weit weg. Beinahe so, als wäre der Verdacht nicht echt, sondern nur ein böser Traum.
Nun versuche ich im Bett liegend gedanklich das Gespräch mit Dr. Eisenring zu rekonstruieren. Der Nebel, der sich in meinen Gedanken gebildet hatte, seit der Arzt das Wort „Brustkrebs“ aussprach, lichtet sich allmählich. Während ich mich konzentriere, kommen mir immer mehr Gesprächsfetzen in den Sinn, die ich zuvor beim Termin nicht mehr verarbeiten konnte. Nach dem Schreckmoment hatte ich einfach nur funktioniert. Ähnlich wie bei einem Computer war das Programm „Arztgespräch“ angegangen und hatte diese Aufgabe für mich erledigt, während ich in Gedanken von einer hohen Klippe heruntergefallen war. Es schien so, als ob dieses Programm das Gespräch für mich aufgezeichnet hatte und ich nun am Abend dazu bereit war, diese Aufzeichnung abzurufen.
Verständlicherweise hatte Dr. Eisenring mir nicht direkt gesagt, dass ich Brustkrebs habe. Er hatte auf der Röntgenaufnahme etwas Verdächtiges gesehen. Zusammen mit einigen Indizien in meinem Blutbild ergab sich daraus der Verdacht, dass es im schlimmsten Fall Brustkrebs sein konnte. Er hatte mich für den nächsten Morgen im Krankenhaus zu einer Computertomografie angemeldet, und anschließend sollte ich mit den Bildern zu einer Spezialistin namens Dr. Seifert gehen. Meine Akten ließ er ihr per Kurier zukommen.
Daraus schlussfolgerte ich nun: so weit, so gut. Es war bestimmt nichts Ernstes. Wahrscheinlich nur eine Zyste, die sich gebildet hatte. Es würde bestimmt gut ausgehen, es ging bisher immer gut aus für mich. Ich erinnerte mich daran, dass Uwe schließlich damals diese Lotte hätte heiraten können, statt sich für mich zu entscheiden. Wir hatten beide um ihn geworben, aber ich hatte ihn für mich gewonnen. Das war vor zehn Jahren, und ich habe es bis heute in keinem Moment bereut. Geheiratet haben wir dennoch nicht, und Kinder haben wir auch keine. Dafür hatten wir uns aufgrund unseres Alters, als wir uns erst kennengelernt hatten, entschieden. Wir gingen beide bereits auf Mitte dreißig zu, und dann kamen noch das Leben, unser Beruf und vieles mehr hinzu. Jedenfalls vergingen viele Jahre, und wir sind auch ohne die Hochzeit ein sehr glückliches Paar. Ich schmunzele über die Erinnerungen und drehe mich im Bett zu ihm.
Er schläft tief und fest. Ich frage mich, ob ich es ihm gleich heute hätte sagen sollen. Ach nein, besser nicht, denn manchmal erzählt man die Dinge in Angesicht der Angst unnötig komplizierter, als sie in Wirklichkeit sind. Er würde sich dann nur unnötig Sorgen machen, und am Ende wäre ja doch nichts. Ich würde morgen einfach ins Krankenhaus und anschließend zu dieser Frau Dr. Seifert gehen. Da sie Spezialistin ist, kann sie bestimmt gleich Entwarnung geben. Erst anschließend erzähle ich Uwe davon, und ungefähr im Stil wie „ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“.
Kapitel 3
Der Geruch aus dem Wartezimmer des Krankenhauses signalisiert einem bereits, dass man krank ist, und am liebsten möchte man einfach nicht dazugehören. Im Krankenhaus liefen die ersten Vorgänge ganz schnell und formell ab. Ich hatte kurz gewartet und war dann auch schon zur Computertomografie geführt worden. Nun warte ich hier, bis Frau Dr. Seifert Zeit für mich hat. Sie würde mit mir alles Weitere besprechen. Natürlich habe ich sie gestern Abend im Handy gegoogelt. Sie ist Onkologin und hat sich in ihrer Doktorarbeit damit befasst, wie sich die Behandlung der psychischen Folgen einer Krebserkrankung in die Krebstherapie integrieren lässt. Ob sie neben Medizin auch Psychologie studiert hat, weiß ich nicht. Sie war also eine Art Feuerwehr und Trauma-Team in einer Person. Der Gedanke gefiel mir, während ich noch wartete, obwohl ich von einem Trauma-Team nicht allzu viel hielt.
Ich weiß noch genau, wie es damals war, als unser Kollege Herbert morgens im Büro nicht zur Arbeit erschien. Ich spüre noch heute den Schock, der mich traf, als der Chef, umringt von einem dieser Trauma-Teams, vor uns getreten war. Ich habe noch seinen Tonfall im Ohr, wie er uns mitteilte, dass Herbert auf der Intensivstation lag, weil er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Ich wollte danach einfach nur meine Arbeit machen und nicht allein sein. Ich wollte nicht darüber sprechen und mich ganz einfach auf meine Arbeit konzentrieren, um nicht darüber nachdenken zu müssen. Aber dann schlich dieses Trauma-Team im Büro umher. Sie wollten mit ihren sanften Stimmen von uns wissen, ob wir mit der Situation umgehen konnten. Da ich noch da war, ging ich offensichtlich meiner Arbeit nach. Meiner Meinung nach hätten sie sich besser fragen sollen, wie es wohl Herbert gegangen war, bevor er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Diese Frage hätten wir uns alle damals stellen sollen.
Aber als ich dann zwei Tage später in der Nacht einen Heulkrampf hatte und Uwe sich nach unzähligen Versuchen nicht mehr zu helfen wusste, da war ich dann doch froh, dass mir Selina vom Trauma-Team ihre Karte gegeben hatte. Danach war ich froh, dass ich mit Uwe darüber sprechen konnte. Ich war froh, dass Uwe an die Kontaktkarte gedacht hatte. Ebenfalls war ich vor allem froh, dass Selina ein Profi war, die nachts bei uns vorbeikam und mit mir reden konnte, wie ich es mit niemandem sonst gekonnt hätte.
Herbert kam durch, war jedoch erblindet. Herbert war der liebenswürdige Tollpatsch, den es wohl in jeder Firma gab. Er war immer gut aufgelegt, freundlich, höflich und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Deshalb