„Welcher?“
„Der rechte.“
„Hinsetzen!“, befahl Udo dem Ersten, der ihm umständlich Folge leistete. Udo schlang das reißfeste Klebeband um seine Beine.
Udo besah sich den Fuß. Geschwollen. Ohne Zweifel, damit konnte der Zweite keinen einzigen Schritt mehr laufen.
„Jetzt mal die Zähne zusammenbeißen, mein lieber Freund. Wer das Eine will, muss das Andere mögen.“ Auch ihm band Udo die Hände auf den Rücken. „Am besten, das sieht sich mal ein Arzt an. Ich glaube, auf die Füße können wir verzichten. Damit kommst du sowieso nicht weit.“ Anschließend verständigte er den Notarzt.
„Pass gut auf, Hasso!“ Hasso antwortete mit einem „Wau“.
Im Lichte der Taschenlampe kondensierte die Atemfeuchtigkeit in der Kälte. Udo zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und schlug den Kragen seiner lammfellgefütterten dunklen Lederjacke hoch.
„Euer nächtlicher Ausflug wird euch wohl teuer zu stehen kommen. Wohl an! Wir machen uns einen gemütlichen Abend bei kaltem Boden und einem frischen Lüftchen und warten auf die lieben Kollegen der Polizei.“
„Arschloch!“, schrie der Verletzte und versuchte Udo anzuspucken. Dann wandte er sich an seinen Komplizen: „Hast du dir wegen dem Clown da in die Hosen gepisst, oder wieso bist du so breitbeinig angekommen? Memme!“ Udo aber tat, als hörte er das nicht. Innerlich stellte er sich auf ein längeres Warten ein, das er unerträglicher empfand, als diese Beleidigung. Er hatte schon ganz andere gehört.
Wider Erwarten waren Polizei und ärztlicher Notdienst bereits nach einer guten Viertelstunde vor Ort und Udo konnte seinen nächtlichen Kontrollgang mit dem Einscannen des Objektcodes in sein Lesegerät beenden. Er war sauer, hieß doch dieser Vorfall für ihn, wieder einen Haufen endloser Formulare auszufüllen und dafür seine Freizeit zu opfern. Ohnehin war seine tägliche Schicht oft elf, zwölf Stunden lang.
Hasso hatte Udos Stimmung mitbekommen. Beruhigend rieb er seinen Hals an Udos Bein, bevor Udo die Beifahrertür aufgeschlossen hatte und er sich auf seinen angestammten Platz neben Udo setzen konnte.
Nachdem er auch bei der Fleischerei im Gewerbepark alles kontrolliert hatte, war das nächste Ziel das Gewerbegebiet auf der Ostseite der Kreisstadt. Zu gern hätte Udo gewusst, was die Beiden auf dem Dach der Fensterfirma wirklich vorhatten. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte?
Die Bundesstraße war frei. Udo trat etwas mehr aufs Gaspedal, in der Hoffnung er könne so etwas von der verlorenen Zeit einholen. Ein orangefarbener Blitz aus dem Starkasten in der siebziger Zone kurz vor der Kreisstadt holte ihn in die Realität zurück. „Auch das noch! Herr-Gott-Sakrament!“, fluchte er vor sich hin. „Und das alles für einen Stundenlohn von Fünf-Euro-Zwölf!“
Der Lokalreporter hatte seine Kamera eingepackt und den Tagungsraum des Jobcenters verlassen. „Kommen wir nun zum gemütlichen Teil. Der unterzeichnete Vertrag ist wahrhaft ein Grund, auf gutes Gelingen unserer Initiative anzustoßen.“ Justus Voigt, der Leiter des Jobcenters blickte in die Runde. „Besonders möchte ich hervorheben, dass es uns nun endlich gelungen ist, alle Parteien an einem Tisch zu bringen. Ja, nicht nur zusammenzubringen, sondern auch mit grundsoliden finanziellen Ergebnissen aufzuwarten. Lassen Sie mich mit den Damen unserer Runde beginnen: Sie, Frau Viola Maurer, mit Ihren profunden Ideen zu effektiven Bildungsangeboten in der Leif-GmbH, Sie, Frau Eva Jakob, für Ihre überaus nützlichen Kenntnisse in der Beschäftigungspolitik und deren Anwendung in Ihrer Übungsfirma Easy-Job und nicht zu vergessen unseren langjährigen Freund und Kollegen Alex Maurer mit der POWER-PSA, seiner Power-Job-Vermittlung!“
Voigt griff nach seinem Glas und erhob sich. „Erheben wir uns. In Anbetracht der Wichtigkeit unserer Vereinbarung für die Menschen in unserer Gesellschaft habe ich mir erlaubt, auf Kosten des Hauses eine Kiste echten Champagner zu ordern.“ Er hob sein Glas in die Höhe. „Zum Wohl, meine Damen und Herren! Auf gutes Gelingen.“
Die Gläser klangen und Viola Maurer, die in einem engen kurzen, aber schlichten roten Kleid erschienen war, blickte Justus Voigt mit einem Augenaufschlag an, wobei sie ihr lichtblondes schulterlanges Haar feminin wiegte. „Ich habe gar nicht geahnt, dass auch der Chef eines Jobcenters solch charmante Reden halten kann.“ Sie berührte ihn leicht am Oberarm. „Ich glaube, ich muss bei Ihnen mal Privatunterricht nehmen. Kommen Sie auch zu mir, wenn ich Sie gut bezahle?“ Dabei biss sie sich mit ihren oberen Schneidezähnen leicht auf die Unterlippe und strich ihm zärtlich die Wange. Sie stieß ihn mit ihrer Hüfte leicht an. „Wir werden ungestört sein“, meinte sie und lächelte. „Dafür werde ich sorgen.“
Die Tür zum Tagungsraum öffnete sich und Frau Knechtel, Voigts Sekretärin, steckte ihren Bubikopf durch den Türspalt.
„Herr Voigt, Herr Biegel wartet wegen einer Beschwerde über Frau Krause auf das Gespräch mit Ihnen. Sein Termin mit Ihnen ist schon vor über einer halben Stunde gewesen. Er wird allmählich ungehalten.“
„Frau Knechtel, Sie sehen ja wohl, dass wir hier beschäftigt sind?“, herrschte Voigt sie an. „Lassen Sie sich etwas einfallen. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, müssen Sie sich eine andere Beschäftigung suchen. Und jetzt verschwinden Sie!“
Die Tür krachte mit aller Wucht ins Schloss, während kurz darauf der Korken der nächsten Champagnerflasche knallte.
Während Justus Voigt und Viola Maurer flirteten, steckten Alex Maurer und Eva Jakob die Köpfe zusammen und tuschelten. Hin und wieder huschte ein Lächeln über die Lippen der Beiden. Wie zufällig lag die Hand von Alex auf der von Eva und Eva machte keine Anstalten ihre dort wegzuziehen.
Dienstag, 14. September
„Jobcenter will Arbeitslosigkeit über 50 halbieren“ und „Jobcenterchef erhebt erneut Klage gegen sittenwidrigen Lohn“, titelte die Kreis-Zeitung über einem großformatigen Foto mit den Unterzeichnern bei der Unterschriftsleistung. Mit der Initiative 50-plus ziehen jetzt das Jobzentrum, die Bildungsfirma Leif-GmbH und die Übungsfirma Easy-Job sowie POWER-PSA an einem Strang. Es darf nicht sein, so führte Justus Voigt vom Jobcenter der Münsterstadt aus, dass die wertvollen Erfahrungen der Überfünfzigjährigen brach liegenblieben. Es kommt darauf an, diese Personengruppe fest in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Unser Ziel ist die Vollbeschäftigung.
Udo Voss las entgegen seiner Gewohnheit den ganzen Artikel, hoffte er doch, trotz Vollzeitjob endlich aus der Abhängigkeit des Jobcenters zu entfliehen. Nichts, aber auch gar nichts war in diesem Artikel darüber zu erfahren, zu welchen Bedingungen die Leute seiner Altersgruppe in Arbeit kommen sollten. Seit er vor über zwei Jahren den Job als Wachtmann einer privaten Sicherheitsfirma übernommen hatte, hatte es immer wieder Unstimmigkeiten bei dem monatlichen Einkommensnachweis für das Jobcenter gegeben. Ohne das Geld vom Staat hätte er trotz der vielen Überstunden nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten können.
Udo blätterte weiter und suchte nach Interessantem. Die Überschrift „Polizei stellt Diebe auf frischer Tat“ weckte seinen Wissensdurst. Mitten hinein beim Lesen machte sich sein Handy bemerkbar. „Chef“, war auf dem kleinen farbigen Display zu lesen.
Udo war sauer. Nicht einmal den wohlverdienten Feierabend am Vormittag konnte der Chef akzeptieren. Ob er wieder einen außerplanmäßigen Zusatzjob hatte, ging ihm durch den Kopf, bevor Udo aufs Knöpfchen drückte.
„Voss“, meldete Udo sich und lauschte.
Bald darauf vergrößerte er den Abstand seines Handys von seinem Ohr. Das, was er hörte, war unangenehmer als ein Zusatzjob. Der Chef siezte ihn und zitierte ihn kurz und knapp für den späten Nachmittag in sein Büro. Dann legte der Chef wieder auf. Dass Udo nicht wusste, um was es ging, machte ihn äußerst unruhig.
Den kurzen Artikel zu den Dieben musste er aber noch schell zu Ende lesen. Schon bald stellte er fest, dass es sich dabei um den Vorfall bei der Fensterbaufirma vorgestern Nacht handelte. Die beiden Burschen hatten tatsächlich versucht, Solarpaneele vom Dach zu stehlen. Aber kein Wort von ihm und Hasso. Insgeheim ärgerte ihn das und ließ die Polizei