Die Engel am Teufelssee. Marie Louise Lennart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Lennart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738071825
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gelassen.“

      „Dann hätte er – oder sie – womöglich tatenlos zugesehen, wie sie Selbstmord beging? Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass das Opfer in seinen letzten Stunden nicht allein in der Wohnung war?“

      Karo schüttelte müde den Kopf. „Überhaupt keine. Alle Spuren und Indizien deuten bisher darauf hin, dass sie alleine war, als sie Suizid beging. Der Täter oder die Täterin ist erst danach gekommen, hat die Leiche gewaschen, frisch eingekleidet und in den Wald gebracht.“ Nordhäuser schnippte die Zigarette über das Geländer. Ob er wohl von hier oben das kurze Aufglühen sehen könnte, wenn sie den Boden erreichte? Er beugte sich vor. Nichts zu sehen. Zu tief, zu dunkel. Er zündete sich eine zweite Zigarette an. Karo seufzte. „Das ist alles nicht uninteressant“, sagte Nordhäuser. „Trotzdem verstehe ich immer noch nicht ganz, was wir eigentlich damit zu tun haben. Ich meine, wenn es eindeutig Suizid war.“

      „Ja, so sieht es aus. Und auch Leichenschändung konnten wir ausschließen. Dennoch: Irgendetwas stimmt da nicht. Ich meine: Warum ist die Leiche gewaschen worden? Warum wurde sie neu eingekleidet? Warum hat man sie in den Wald gebracht und so drapiert? Das sieht doch nach Planung aus. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Ich fürchte ...“ Sie brach plötzlich ab, schlug die Augen nieder und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, eine Geste, die sie auf eine rührende Weise erschöpft und hilflos aussehen ließ. Lass dich bloß nicht täuschen, ermahnte Nordhäuser sich im Stillen, diese Frau ist aus Granit, an der wirst du dir noch die Zähne ausbeißen. Trotzdem konnte er nicht umhin sich einzugestehen, dass der Ausdruck ihrer Hilflosigkeit – oder war es Ratlosigkeit? – ihn rührte. Sie räusperte sich. „Vielleicht irre ich mich. Vielleicht reagiere ich über. Deswegen will ich, dass Sie unvoreingenommen an die Sache herangehen“, sagte sie. „Ich habe Ihnen alles, was wir bisher haben, kopiert. Nehmen Sie das ganze Zeug mit und lesen Sie es sich in Ruhe durch. Und dann sehen wir uns morgen früh zusammen den Fundort der Leiche an.“

      Nordhäuser konnte förmlich spüren, wie sie hinzufügen wollte: „Eigentlich hätten wir das schon heute tun sollen.“ Doch irgendetwas hatte sich in den letzten Minuten zwischen ihnen verändert.

      „Morgen früh also. Und dann sagen Sie mir, was Sie denken. Treffen wir uns um 9 Uhr hier im Turm. In Ordnung?“

      Er nickte. „Geht klar.“ Sie sah ihn an und presste die Lippen fest aufeinander, wahrscheinlich verkniff sie sich so das „Und seien sie bitte pünktlich“. Ein weiterer Pluspunkt für sie. Er dankte es ihr mit einem kleinen Lächeln. Sie wandte sich rasch ab.

      Nachdem er die Unterlagen in seine Sporttasche gestopft hatte, ging er neben Karo die Wendeltreppe hinunter. Sie war so eng, dass sein Arm den ihren streifte. Während sie darauf warteten, dass der Fahrstuhl kam, begann Karo wieder zu sprechen, beinahe mechanisch. Er konnte aus jedem Wort ihre Müdigkeit heraushören.

      „Wir sind hier nur kurzfristig untergebracht. Leider. Die Räume sind schön, wenn auch eine Klimaanlage nicht schlecht wäre. Am Ende wird hier wohl auch eine Event-Location oder eine Bar untergebracht werden, so wie es schon im Südturm der Fall ist. Vielleicht wird es auch eine Galerie. Na ja, wir werden sehen. Ansonsten befinden sich in beiden Türmen ausschließlich Wohnungen; Mietwohnungen, alle noch durch eine Wohnbaugesellschaft verwaltet. Hier wohnen `ne Menge verdienter Genossen, Leute, für die die DDR ein gelobtes Land war, in dem sie Karriere gemacht haben. Die Wohnungen hier waren Prestigeobjekte, da kam keiner rein, der nicht die richtigen Kontakte hatte und die richtige Einstellung. Die meisten der Genossen wohnen bis heute hier.“

      Nordhäuser grinste. „Genossen? Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Mehr als zwanzig Jahre nach der Wende?“

      Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich übertreibe nicht. Gewöhnen Sie sich dran: Wir sind hier mitten in dem Land, das mal die DDR war. Die Wende hat in vielen Köpfen nicht stattgefunden.“

      Der Fahrstuhl war endlich da, die Tür öffnete sich, und Nordhäuser dachte gerade noch rechtzeitig daran, Karo den Vortritt zu lassen. „Und was sagen die Genossen dazu, dass wir jetzt in ihrem Turm sitzen?“, fragte er.

      Karo lachte. „Davon wissen sie nichts. Niemand weiß, dass wir hier Stellung bezogen haben. Auf Nachfrage sind wir eine Immobilienfirma, die die Räume hier zwischennutzt. Wir nehmen nur Kollegen mit rauf, keine Zeugen, keine Verdächtigen; für Vernehmungen nutzen wir die Räume der Polizeidirektion 1 in der Pankstraße.“

      Sie schwiegen, bis der Fahstuhl das Erdgeschoss erreicht hatte. Als sie auf den Platz am Frankfurter Tor traten und der Verkehrslärm sie wie eine Brandung traf, reichte ihm Karo die Hand.

      „Willkommen in Berlin, Nordhäuser. Wenn ihnen die Genossen hier unheimlich sind, müssen Sie in diese Richtung.“ Sie hob die Hand und deutete die Warschauer Straße hinunter. „Da geht’s in den Westen, Oberbaumbrücke, über die Spree nach Kreuzberg. Wenn’s Ihnen im Osten gefällt: In der Palisadenstraße gibt es die Pension Ritter, ich hab da öfter schon Freunde und Verwandte untergebracht. Da ist ein Zimmer für sie reserviert. Gute Nacht und bis morgen.“ Sie drückte ihm noch einen Prospekt in die Hand, lief über die Ampel, winkte ein Taxi heran und stieg ein. Er hatte keine Ahnung, wo sie jetzt hin fuhr, ja eigentlich, dachte er, weiß ich nichts über diese Frau.

      In seinem Auto, das er in der Rigaer Straße wiederfand, nachdem er vom Bersarinplatz aus zunächst in den Weidenweg hineingegangen war, fand er zum Glück noch ein paar Müsliriegel und eine warme Dose Cola. Er war wirklich völlig fertig, was natürlich auch kein Wunder war. Dann rief er in der Pension Ritter an. Die Frau an der Rezeption war auf eine beinahe übertriebene Weise freundlich, fand er. Er müsse, wurde ihm gesagt, den Weidenweg entlang fahren, dann käme er auf die Friedenstraße, von der er sofort links in die Palisadenstraße abbiegen müsse. Zusätzlich zu der detaillierten Wegbeschreibung nannte sie ihm noch die Koordinaten für das Navigationsgerät, aber da er so etwas nicht besaß, würde er die Pension auch so finden müssen. Natürlich, was sonst! Er brauchte keinen technischen Schnickschnack, um sich zurechtzufinden. Ein paar Punks liefen an seinem Wagen vorbei und verschwanden durch ein Tor, über dem mit Parolen vollgeschmierte Bettlaken hingen. Offensichtlich hatte man es beim Aufhängen so eilig gehabt, dass man nicht einmal das Trocknen der Farbe abgewartet hatte. Lange rote Farbnasen schmückten jeden einzelnen Buchstaben. Nordhäuser startete den Wagen und fuhr los. Er umrundete drei Mal den Bersarin-Platz, bis er endlich auf der richtigen Spur war und in den Weidenweg abbiegen konnte. Minuten später parkte er bereits vor der Pension. Gut, sagte er sich, auf zu neuen Ufern!

      Nachdem er das Zimmer für eine Woche gebucht hatte – die hübsche junge Frau an der Rezeption war tatsächlich die Freundlichkeit in Person, bestand aber auf der Woche – nahm er zuerst einmal eine Dusche. „Du stinkst wie ein Eber“, sagte er mehrmals halblaut vor sich hin, „aber da stehen die Mädels ja drauf. Aber hallo. Du stinkst echt wie ein Eber.“ Dann zog er, sich dabei abtrocknend, die Unterlagen aus seiner Tasche, legte sie auf den Nachttisch und warf sich nackt aufs Bett. Die Matratze war steinhart, fast wäre sein bestes Stück in Mitleidenschaft gezogen worden. „Scheiße“, sagte er zu sich selbst. „Pass doch auf. Wir brauchen dich noch, und zwar im Ganzen.“ Seit Marie ihn verlassen hatte, erwischte er sich immer öfter dabei, dass er mit sich selbst sprach. Manchmal sogar in der Öffentlichkeit. Egal, dachte er. Das baut Stress ab. „Der erste Fall also“, sagte er dann laut, „Jan, mein Junge, mach das Beste draus! Auch wenn es nur eine Selbstmörderin ist, die als Leiche quer durch Berlin läuft, um sich in einem Wald zur Ruhe zu betten.“ Er streckte die Hand nach den Unterlagen aus, sie sank schwer auf den dicken Papierstapel. Er musste das Zeug unbedingt noch heute lesen. Morgen früh wäre er dafür viel zu kaputt, das wusste er jetzt schon.

      Kapitel 6

      Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass sein Handy klingelte. Dann hörte es wieder auf, nur um gleich wieder zu klingeln. In der Sporttasche, irgendwo unter den Klamotten. Er wälzte sich über den auf dem Bett verteilten Papierkram auf den Bauch, zog die Tasche zu sich, fischte das Handy heraus und drückte auf die grüne Taste. „Briefing in dreißig Minuten“, bellte eine Stimme, „wenn sie nicht pünktlich da sind, fangen Stubenrauch und ich ohne Sie an.“

      „Wer?“, brachte Jan verschlafen hervor. „Stuben was?“

      Aber