Die sieben Steine. Martin E. Greil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin E. Greil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775504
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weinend, kalt und verglühend zugleich schien, hatte er nichts mehr, was ihn halten konnte, um seinem inneren Gewissen nochmals den Hauch einer Chance zu geben. Sein Körper schien in drogenkranker Ekstase, einem in der Erdatmosphäre verglühenden Kometen ähnlich zu werden. Die Schönheit seiner leuchtenden Hülle konnte der Katastrophe nur weichen, wenn er genügend Kraft besaß, um mit voller Wucht diese Erde zu erreichen, um einmal mehr dem ganzen Spuk ein Ende zu setzen“.

      Eva-Maria Pauschberger war gerade damit beschäftigt, den Blumenstrauß, den sie für ihr zwanzigjähriges Jubiläum als Sekretärin der Abteilung für Geschichte an der Universität Dorsis bekommen hatte, in eine dunkelbraune ovale Vase zu stellen. Sie saß an ihrem Schreibtisch am Eingang des Großraumbüros IM01, in dem sich hauptsächlich Gastlektoren für ihren kurzen Aufenthalt als Vortragende niederließen. Ihre gute Figur und der moderne stufenförmige Pagenschnitt verliehen ihr aus der Ferne angesichts ihrer 44 Jahre ein jugendliches Aussehen. Dennoch, beim genaueren Betrachten entdeckte man in ihrem Gesicht tiefe Falten, die durch die vergilbte Haut noch verstärkt wurden. Sie hätte schon längst das Rauchen aufgeben sollen, doch ihre instabile Lebenssituation mit leichten Depressionsschüben ließ dies einfach nicht zu. Zu sehr wurde sie von den verschiedensten Männern in ihrem Leben gekränkt und ausgenutzt. Allzu sehr wollte sie das perfekte Glück erzwingen, steckte doch eine sensible, verletzliche Seele in diesem einst so strahlenden Körper. Jedoch konnte sie sich immer noch auf die kleinen Dinge des Lebens konzentrieren und sich tief fallen lassen. Wie dieser Blumenstrauß mit gelben und weißen Nelken, die an diesem kalten grauen Tag herrlich nach Frühling und Wärme dufteten. Mit einem weiteren Atemzug und geschlossenen Augen versuchte sie nochmals, für einen kurzen Moment der täglichen Einsamkeit zu entfliehen.

      Sie bemerkte nicht, wie er an ihr vorbeilief, obwohl er ihr ein kurzes „Hallo“ zuwarf.

      Als sie die Augen wieder öffnete, war Simon Rhomthal schon längst hinter dem ersten Bücherregal, das die verschiedenen Arbeitsplätze trennte, verschwunden. Er begab sich zum letzten Arbeitsplatz am Ende eines schmalen Korridors, der in einer kleinen Nische auf der linken Seite lag. Versteckt hinter tausenden von Fachbüchern und Zeitschriften fand Simon Rhomthal hier die Ruhe, die er an den größeren Arbeitsplätzen nie erreichen konnte. Simon Rhomthal legte seine Kamelledertasche auf den Tisch, verstaute seine Winterjacke aus Baumwolle hinter einer Bücherreihe im oberen Regal, setzte sich an seinen Schreibtisch und las in seinen mitgebrachten Unterlagen, die aus gut einem Dutzend lose zusammengelegter, von Hand beschrifteter Blätter bestanden.

      „Psst!“

      Simon Rhomthal drehte sich kurz um, doch hinter ihm stand nur ein Bücherregal, das sich bis zur Decke erstreckte.

      „Psst!", ertönte es noch einmal hinter ihm.

      „Verdammt, was ist denn heute los?", ruckartig drehte Simon Rhomthal sich um. Fast schon wie ein Boxer, der zum letzten Schlag ausholen wollte, hechtete er zum Bücherregal. Da bemerkte Simon Rhomthal einen leichten Schatten, der sich hinter den Spalten der einzelnen Bücher leicht bewegte.

      „Ich bin’s! Alban!", flüsterte Alban Sickberger durch die Spalten des Regals hinter ihm. Mit nur einem Meter fünfzig Größe, gut hundert Kilo Körpergewicht, dunkler Haut, rabenschwarzen Haaren sowie einem karierten Sakko, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich hatte, war Alban Sickberger eine bizarre Erscheinung. Er schien weit über sechzig zu sein. Dies wusste allerdings niemand so genau, da er als Überbleibsel der französischen Besatzungstruppen nach dem Zweiten Weltkrieg als Mischling nicht sehr leicht einzuschätzen war. Sickberger hatte sich einen Namen beim Beschaffen von geheimen Informationen im Bereich der Auftragsvergabe von neuen Bauvorhaben gemacht.

      Die Politiker von Dorsis waren kulturell nicht sehr offen, abgesehen von vereinzelten volkstümlichen, alljährlichen Bräuchen. Doch was die Wirtschaft und das Bauwesen, sowie die Forschung und Entwicklung neuer Ideen anging, waren die Großen von Dorsis die Erfolgreichsten im Westland. Man munkelte, dass zwielichtige Gestalten wie Sickberger im Hintergrund immer wieder gute Arbeit leisten, um interessante Informationen frühzeitig, gegen reichhaltige Bezahlung an die potenziellen Käufer zu bringen.

      „Sickberger, erstens glaube ich kaum, dass es mich interessiert, was du mir zu sagen hast, zweitens habe ich im Moment keine Zeit für dich, und drittens habe ich dir gesagt, dass ich dich hier nicht mehr sehen will!“, sagt Simon Rhomthal, drehte sich wieder in Richtung Schreibtisch und studierte weiter seine Unterlagen.

      Simon Rhomthal hatte Sickberger vor zwei Jahren kennengelernt, als er noch arbeitslos und in ziemlichen Geldnöten gewesen war. Sickberger hatte ihm damals über zweitausend Euro geliehen. Dafür musste er aber diverse Beobachtungsaufgaben beim örtlichen Computersoftwarehersteller Ceyfexxis durchführen. Simon Rhomthal hasste es, sich so herabgelassen zu haben und wegen Sickberger in einer zwielichtigen Situation gelandet zu sein. Beim Beobachten von Ceyfexxis hatte man ihn auf Video aufgezeichnet. Ein paar Tage später flatterte schon die erste Anzeige wegen Betriebsspionage ins Haus. Vor Gericht hatte er Sickberger kein einziges Mal erwähnt. Simon Rhomthal gab an, arbeitssuchend, ein Auge auf die Firma geworfen zu haben, was ihm der zuständige Richter nicht wirklich abkaufte; es handelte sich schließlich um spätabendliche Aktivitäten. Dennoch wurde Simon Rhomthal mit einer Mahnung, der Firma fern zu bleiben, entlassen. Seitdem dachte Sickberger, ihm einen Gefallen zu schulden. Was in Wirklichkeit gar nicht Simon Rhomthal’s Wunsch entsprach. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden und nichts mehr mit den Aktivitäten der Unterwelt zu tun haben.

      „Psst!“, summte Sickberger noch einmal durch das Bücherregal. Sickberger nervte ihn nun so gewaltig, dass Simon Rhomthal nochmals ruckartig aufsprang und hinter dem Bücherregal, wo Sickberger stand, verschwand. Simon Rhomthal schubste Alban Sickberger an die gegenüber liegende Wand.

      „Was um alles in der Welt ist los mit dir, Sickberger? Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben!“, schrie in Simon Rhomthal an. Sickberger war sichtlich von diesem Schubser überrascht, da er mit seinem Gewicht der Stärkere von beiden war. Dennoch fing er sich gleich wieder.

      „Ich weiß, wo die Doloris-Rolle ist!“, sagte Sickberger. Simon Rhomthal ließ sofort von Sickberger ab und blieb für einen Moment regungslos mit starrem Blick vor ihm stehen.

      Wenn Steine sprechen

      In der Vergangenheit ...

      06.07.117 nach Christus, Jerusalem, Anhöhen von Golgatha. Rund zwei Dutzend spärlich bekleidete, von der Sonne gebräunte Männer waren mit dem Ausheben einer Grube beschäftigt. Auf Befehl von Kaiser Marcus Ulpius Traianus wurde hier ein römischer Tempel zu Ehren des Gottes Elagabal errichtet. Elagabal galt als Berg-Gott, der von Kaiser Traianus verehrt wurde. Der Kaiser war auf seinen frühen Feldzügen in das heutige Deutschland öfters über die Alpen gereist. Er erlebte die Berge als mystische Region, der er nahe stand.

      Der Tag neigte sich zur letzten hellen Stunde hin, als Ismael Hibääus erneut mit seiner Schaufel in die harte Erde vor sich einstach. Ismael war Mitte dreißig, doch wirkte er als Konsequenz der harten Sklavenarbeit um einiges älter. Seine Haare waren kurz und schwarz. Ein gut zwanzig Zentimeter langer Bart schützte ihn vor der heißen Sonne. Er arbeitete am tiefsten Punkt in der dreißig Mal dreißig Meter großen Aushebung. Seine Hände waren dunkel von der Erde und überzogen von Schwielen. Den Schweiß wusch er sich mit einem am Arm umwickelten Tuch vom Gesicht. Außer einem weiteren Fetzen Stoff, den er wie eine Windel um seine Beine gewickelt hatte, trug er keine Kleidung mehr an sich. Er war Lehrer im Dorf Miron in der Nähe von Safed gewesen.

      Eines Tages waren römische Legionäre gekommen und versklavten ihn sowie einige seiner Freunde und Dorfmitbewohner. Miron war bekannt für seine Gelehrten. Jene sollten nun den Bau des römischen Tempels als Erniedrigung ihres Glaubens durchführen. Ismael Hibääus machte die Arbeit nichts aus. Er war zwar knochendürr, aber von unbeugsamem Überlebenswillen gestärkt. Seit zwei Wochen waren sie nun schon am Graben. Genau so lange versuchte Ismael, einen Weg zur Flucht zu finden. Er wusste, dass ein missglückter Fluchtversuch mit der sofortigen Kreuzigung bestraft wurde. Dennoch wollte er auf keinen Fall sein Leben in Sklaverei verbringen. Doch dem Tod wollte er noch nicht ins Auge sehen. Zu viele Bauvorhaben der Römer brauchten immer mehr Sklaven. Zu wenig war