Damit nähern wir uns dem an, was Jesus sagt, wenn er davon spricht, “von der Welt” oder “nicht von der Welt” zu sein. Jesus verletzt das Gesetz, weil er “nicht von der Welt” ist. Diejenigen aber, die ihn im Namen der Erfüllung des Gesetzes verurteilen, tuen dies, weil sie “von der Welt” sind. Von der Welt sein, heißt töten wollen. Aber sie töten, damit das Gesetz erfüllt wird. Der Mord, den sie begehen, verletzt nicht das Gesetz, sondern ist durch seine Erfüllung gefordert. Er muß begangen werden, damit das Gesetz erfüllt wird. Dieser Mord ist das Zentrum dessen, was es heißt, von der Welt zu sein.
Für das Gesetz ist die Verletzung des Sabbats eine Sünde, die bestraft wird. Soweit derjenige, der das Gesetz verletzt hat, akzeptiert, daß er es verletzt hat und damit ein Unrecht begangen hat, wird das verletzte Gesetz durch die Strafe wieder hergestellt. Jesus hingegen verletzt das Gesetz des Sabbats, wenn man es aus der Sicht seiner formalen Erfüllung betrachtet. Aber er besteht darauf, daß diese Verletzung legitim und daher Pflicht ist. In diesem Sinne besteht er darauf, daß er das Gesetz nicht etwa verletzt hat, sondern ganz im Gegenteil erfüllt hat. Er hat das menschliche Leben geachtet und danach gehandelt. Folglich hat er überhaupt kein Unrecht begangen, weil dieses Leben über dem Gesetz steht, das ein Gesetz ist, das für das Leben gegeben wurde. Er besteht darauf, daß er den Sabbat nicht etwa abschafft, sondern, indem er das formale Gesetz des Sabbats bricht, den Sabbat erfüllt. Er will den Sabbat nicht abschaffen. Aber die Heiligung des Sabbats geht verloren, wenn man das Gesetz des Sabbats nicht in einem Fall wie der Heilung des Blinden unterbricht.
Vom formalen Standpunkt des Gesetzes jedoch geschieht ein Gesetzesbruch, der bestraft werden muß. Indem aber Jesus darauf besteht, daß es sich gar nicht um eine Sünde handelt, sondern daß die Gesetzesverletzung aus der Erfüllung des Gesetzes als eines Gesetzes für das Leben folgt, hat er alle Beziehung zum Gesetz in Frage gestellt. Das Gesetz ist jetzt einem Unterscheidungskriterium unterworfen, das durch keine Autorität und keinen Gesetzgeber ersetzt werden kann: Um das Gesetz zu erfüllen, muß man es verletzen, sobald es sich dem Leben dessen in den Weg stellt, von dem die Erfüllung des Gesetzes gefordert wird. In letzter Instanz entscheidet das Subjekt über das Gesetz. Jesus fordert Souveränität des lebenden Subjekts gegenüber dem Gesetz.
Tatsächlich handelt es sich nicht um eine einfache Gesetzesverletzung, sondern um die Negation jedes Apriorismus der Geltung von formalen Rechtnormen, ganz unabhängig davon, wer der Gesetzgeber ist: sei es das Gesetz Gottes, das Gesetz der Vernunft, irgendeiner sonstigen Autorität des Königs oder auch eines demokratischen Gesetzgebers. Der Mensch als Subjekt bleibt souverän. Indem das Gesetzesdenken derer, die sich gegen Jesus stellen, in diesem Sinne legalistisch ist, muß aus deren Sicht die Haltung Jesu Rebellion gegen das Gesetz sein. Soweit das Gesetz als Gesetz Gottes gilt, gilt diese Haltung als Blasphemie. Daher werden sie alles Gewicht des Gesetzes gegen ihn einsetzen, das nicht das Gewicht irgendeines verletzten spezifischen Gesetzes ist, sondern des Gesetzes als solchem und daher der formalen Gesetzlichkeit als solcher. Wo aus der Sicht des Menschen als lebendem Subjekt die Sünde begangen wird, die in der Erfüllung des Gesetzes geschieht, erscheint dieses Subjekt aus der Sicht des Gesetzeslegalismus als rebellisches Subjekt, ein Produkt des Hochmuts und der Hybris und seine Sünde ist Blasfemie, die darin besteht, sein zu wollen wie Gott. Daher reagiert das Gesetz auf gewaltsame Art.
Im Evangelium des Johannes dient die Bezugnahme auf den Sabbat dazu, diese Sünde aufzuzeigen, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. “Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da.” Dieser Satz drückt auch das aus, was Johannes sagt. Er kann sehr gut die Position Jesu zusammenfassen, wen wir in Betracht ziehen, daß Jesus dieses Verhältnis auf alle Gesetze und alle Gesetzlichkeit ausdehnt.
Das Wertgesetz und die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird
In den synoptischen Evangelien nimmt Jesus ebenfalls eine solche Position ein gegenüber dem Sabbat. Die gleiche Position nimmt er ebenfalls ein gegenüber dem Wertgesetz, dem Markt und dem Geld. Er tut dies insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Schulden und der Schuldenzahlung. Schulden bezahlen zu müssen, ist Gesetz. Es ist ein Gesetz, das sich direkt aus dem Wertgesetz ableitet und daher ein Ergebnis der Unterwerfung des Menschen unter das Wertgesetz ist. Wo das Wertgesetz auftaucht, taucht auch der Kredit auf und mit diesem die Unvermeidlichkeit der Zahlung von Schulden. Sobald daher das Wertgesetz sich in legaler Form aufzwingt, taucht auch die legale Verpflichtung auf, Schulden zu bezahlen. Die Kritik Jesu des Gesetzes der Schuldenzahlung ist analog seiner Kritik des Gesetzes des Sabbats: der Mensch ist nicht für die Warenbeziehungen da, sondern die Warenbeziehungen sind für den Menschen da. Er kommt daher zum Ergebnis, daß der Mensch nicht leben kann, wenn nicht der Schuldennachlaß Teil des Lebens ist. Auch hier handelt es sich nicht um die Abschaffung der Waren- oder der Kreditbeziehungen, sondern um ihre Unterwerfung unter die Lebensnotwendigkeit des Menschen als dem Subjekt des menschlichen Lebens.
Das Johannesevangelium erwähnt diese Kritik der Schuldenzahlung überhaupt nicht. Es stellt eine ganz andere Seite des Kritik Jesu am Wertgesetz heraus. Es handelt sich um die Ersetzung Gottes durch die Warenbeziehungen, um die Gottwerdung des Geldes. Diese Kritik stellt Jesus heraus anläßlich seines zweiten Auftritts in der Öffentlichkeit bei Gelegenheit seiner ersten Reise nach Jerusalem. Es handelt sich um den einzigen Auftritt, bei dem Jesus selbst gewaltsam wird. Die Szene ist als Reinigung des Tempels bekannt:
“Das Osterfest der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern und Schafen und Tauben und die Geldwechsler sitzen. Da machte er eine Geißel aus Stricken und jagte alle zum Tempel heraus, samt den Schafen und Rindern, verschüttete die Münzen der Geldwechsler und stieß ihre Tische um und sagte zu den Taubenverkäufern: Nehmt dies von hier weg und macht aus dem Haus meines Vaters kein Kaufhaus.” (Joh 2, 13-16)
Johannes sieht hier den Konflikt von Gott und dem Mammon. Der Mammon tritt an die Stelle Gottes, indem er das “Haus meines Vaters” in ein “Kaufhaus” verwandelt. Diese Szene taucht auch bei den Synoptikern auf. Aber sie hat dort nicht die gleiche Bedeutung. Johannes stellt sie dadurch besonders heraus, daß sie bei ihm der zweite Auftritt Jesu in der Öffentlichkeit ist und direkt auf die Hochzeit von Kanaan folgt und daher als Kontrapunkt zu dieser Hochzeit dient. Aber es gibt noch einen anderen Unterschied, der sehr viel wichtiger ist. Bei den Synoptikern sagt Jesus, daß der Tempel zu einer Räuberhöhle gemacht wurde. Bei Johannes hingegen wird er zu einem Kaufhaus gemacht. Das wahrscheinlichste ist, daß der historische Jesus beide Ausdrücke benutzt hat in dem Sinne, daß das Kaufhaus zur Räuberhöhle wird, wenn es den Ort des Tempels, “das Hauses meines Vaters” einnimmt. Denn wo der Tempel zum Kaufhaus wird, wird das Kaufhaus zum Tempel. Alles wird zur Räuberhöhle, und an die Stelle der Ethik Gottes tritt die Ethik der Räuberbande.
Johannes kennt wahrscheinlich die Versionen dieser Szene, in denen Jesus von der Räuberhöhle spricht. Wenn er jetzt das Kaufhaus herausstellt, könnte er dabei eine Absicht haben. Diese Absicht aber kommt in unserer heutigen Sprache nicht zum Ausdruck. Es scheint sich um einen Ausdruck zu handeln, der sehr viel schwächer ist als der Ausdruck Räuberhöhle. Für uns ist es selbstverständlich, daß Kaufhäuser oder Banken Tempel sind, und unsere Kirchen sind dabei, aus den Tempeln Kaufhäuser zu machen. In der Sprache des Johannes ist das aber anders. Da ist es sehr viel schlimmer, aus dem Termpel ein Kaufhaus zu machen als eine Räuberhöhle: nicht einfach eine Räuberhöhle, sondern sogar ein Kaufhaus. Wir können dies kaum nachvollziehen, hat doch heute selbst der Vatikan in Italien eine Bank gegründet, die Bank vom Heiligen Geist (Banco del Espiritu Santo) heißt. Es ist dann gut, einen Satz von Bertolt Brecht zu erinnern, den ich für völlig johanninisch halte: was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank? Ich könnte mir sogar vorstellen, daß Brecht, diesem Meister der Ironie, diese Verbindung mit der Tempelszene von Johannes bewußt ist.
Wir können in diesem Sinne mit Johannes fortfahren: Was ist ein Ehebruch gegen die Steinigung einer Ehebrecherin? Was soll es schon sein, sich am Wein zu berauschen, gegen den Rausch, den man empfindet an der Börse von New York? Was ist eine Räuberhöhle gegen ein Kaufhaus oder eine Bank? Dies