Gerade deshalb war es verlockend – und einfache Menschen würden es so handhaben! - Peer Flints Erlebnisse als „Schicksal“ zu bezeichnen.
Denn wie zu erahnen, gab es an diesem Menschen eigentlich wenig, das zur Geschichtsschreibung taugen könnte. Zu anderen Zeiten hätte aus ihm eventuell ein glücklicher Leibeigener werden können, aber in unserer Zeit sollte seine ganze Person nur zum Statisten genügen. Da war es gewissermaßen ein großes Glück, dass Peer Flint da in etwas hineingezogen wurde, das er weder abwenden noch beeinflussen konnte.
Eventuell war es doch Schicksal.
Von Aprilscherzen und geölten Türen – 1. April, ca. 17:00
Es begann also damit, dass Peer Flint nach seinem üblichen Tagewerk in einem Großhandel für Büroartikel den Heimweg antrat. Keine zwei Kilometer lagen zwischen seinem Arbeitsplatz und seiner Wohnung. Und an diesem recht milden ersten April, den Peer in Form einer ihm an den Kopf geworfenen Plastikspinne zu spüren bekam, war es ihm ein Vergnügen, durch das Stadtzentrum zu schlendern. Schließlich lag diese immer gleiche Idylle auf seinem Arbeitsweg und bot den immer selben Anblick aus Geschäften, wie man sie überall findet. Mit Ausnahme örtlicher Besonderheiten, war auch Peers Heimatstadt nicht grundverschieden von anderen Kleinstädten. Es gab konkurrierende Burgerketten, Klamottengeschäfte in verschiedenen Preislagen und diverse andere Fachgeschäfte. Mangels reicher Touristen hielt sich das Angebot in Sachen Luxusgüter zwar durchaus in Grenzen – aber auch in dieser schön besonnten Einkaufsstraße konnte man kleine Kostbarkeiten erwerben.
Ein Mann lobpreiste Fußgänger und erhoffte sich dafür ein Almosen. Peer schritt an ihm vorbei, ignorierte ihn mangels religiöser Begeisterung, und bog auf halben Wege der Hauptstraße rechts ab. Er folgte dann wie immer der Planstraße, welche die große Flaniermeile kreuzte, Richtung Osten. Nach wenigen hundert Metern überquerte er eine wenig befahrene Kreuzung, die an allen Ecken von Kastanien verziert wurde und schritt in den Molkereipfad.
Der historische Ursprung des Straßennamens war ihm nie so recht bewusst gewesen, aber es schien ohnehin in dieser kleinen Stadt keine Rolle zu spielen. Zumindest hatte Peer noch nie jemanden über die Geschichte einer wichtigen Molkerei, deren Zufahrt er täglich durchquerte, reden hören.
Die Straße war zweispurig, das Kopfsteinpflaster ihrer Unebenheit durch Teer beraubt, alle fünfzig Meter forderten nackte Kastanien Raum ein. Und trotz dessen, dass zwischen den Fassaden der Gründerzeitbauten und dem Straßenrand mindestens drei Meter gemessen wurden, hatte es noch kein ansässiger Gastwirt gewagt, draußen Tische aufzustellen.
Im Souterrain des Hauses, in dem Peer wohnte, befand sich ein asiatisches Bistro, das Peer noch nie betreten hatte. Schließlich sah er nie Gäste darin, sondern nur die Leute, die er für die Familie des Inhabers hielt. Da aber sowohl der Mittagstischaushang als auch der Name des Bistros so allgemein gehalten waren, war es für Peer nicht ersichtlich, ob es sich denn nun um thailändische, chinesische, japanische, vietnamesische oder laotische Küche handeln musste - wobei es vieler Zufälle bedurft hätte, hier ausgerechnet laotische Landesküche anzutreffen.
Dass es sich bei dem Betreiber und seiner Familie um Mongolen handelte, kam Peer hingegen nicht in den Sinn. Kuhmilch wich hier der Stutenmilch und keinen interessierte es. Es war auch einfach nicht relevant, denn irgendwie hatten die Existenz des schmucklosen Bistros und die des Peer Flint nicht viel miteinander zu tun. Auch wohnte der Inhaber selbst nicht im Molkereipfad 64 und damit gewann das Beieinanderexistieren der beiden auch nicht an Wert. Man grüßte sich höchstens, wenn man sich vor dem Haus (der schwere, dunkelgrüne Hauseingang lag rechtsseits der wenigen Stufen, die in das Bistro führten) begegnete. Nie gab es Anmerkungen dazu, dass der Herr nach der Arbeit doch auch einmal hereinschauen könne und nie wurde der Inhaber des Bistros nach den Empfehlungen des Tages gefragt. Auf so engem Raum gab es doch so wenig Bindung. Dieser Umstand hatte Peer allerdings nie wirklich beschäftigt.
Als Peer am ersten Apriltag seine Wohnungstür im ersten Stock erreichte, staunte er nicht schlecht, als er feststellen musste, dass sie nicht mehr verschlossen war. Dies lag maßgeblich daran, dass jemand sehr sorgfältig sein Schloss abmontiert hatte.
Da es sich bei Peer um kein besonders beeindruckend muskulöses oder sehr hoch gewachsenes Menschenexemplar handelte und sein Wesen dem auch recht gut entsprach, lag es ihm fern, einfach so in seine Wohnung zu stürmen und die Einbrecher, die er darin vermutete, auf frischer Tat zu ertappen. Im Keller hingegen, das wusste er, befand sich eine Gardinenstange, die beim Umzug hierhin irgendwie übrig geblieben sein musste. Von den zugehörigen Gardinen fehlte zwar jede Spur, aber seine vorherige Wohnung hatte auch ein Fenster mehr gehabt. Insofern hatte alles seine Ordnung.
Rasenden Herzens stieg er die Treppen wieder hinab, schloss möglichst leise den Keller auf, war dabei der Küche des Bistros sehr nahe, holte die Gardinenstange zwischen dem Gerümpel hervor und schlich dann flach atmend wieder zu seiner Wohnung. Als er die Tür schon wenige Zentimeter geöffnet hatte, die Gardinenstange hinter dem Rücken in der nervös zusammengekrampften Faust haltend, erinnerte er sich an den Umstand, dass seine Tür ewig nicht geölt worden war und gern quietschte. Dies konnte seinen Plan, den Täter auf frischer Tat zu ertappen, gefährden.
Die Tür quietschte nämlich immer genau dann, wenn man beim Öffnen derselben einen gewissen kritischen Punkt überschritt, den Peer gerade erreichte. Beim Zuziehen hingegen quietschte sie immer, und auch ganz egal, wie schnell oder langsam man sich anstellte. Es gab akustisch gesehen also kein zurück mehr.
Nach vorne zu preschen und auf sich aufmerksam zu machen, war keine Option, die Peer besonders gefiel. Jedoch war für ihn der Gedanke daran, die Tür leicht geöffnet zurück zu lassen, noch unerträglicher.
Er atmete noch einmal tief ein, drückte die Tür in die Wohnung – sie quietschte zu seiner Überraschung überhaupt nicht - und sah sich erst einmal im Flur um. Die Gardinenstange hielt er noch immer in einer perfekten Vertikale hinter seinem Rücken. Auf den ersten Blick konnte er keine Veränderungen in seinem Flur feststellen. Nur das Schmieröl stand auf der kleinen Kommode und neben dem Öl lag ein Pinsel auf einem Stück Küchenpapier.
Für den Hausherrn war es schon an dieser Stelle schwierig zu begreifen, warum jemand erst sein Schloss abmontiert hatte, um dann die Aufhängung seiner Tür zu ölen, nur um dann, offensichtlich, alles fein säuberlich angeordnet zu hinterlassen.
Als noch überfordernder sollte sich dann das Folgende herausstellen: Nachdem er kaum zwei Schritte in seinen Flur getan hatte, kamen zwei junge Männer aus der Küche und stellten sich stumm in den Flur. Der rechte und linke glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie hatten beide kurzes, rotes Haar, waren um die einen Meter fünfundsiebzig groß und ihre Gesichter waren komplett haarlos. Beide waren von einer gesunden Figur; schlank und unglaublich proportional gewachsen. Alles an ihrer Statur schien stimmig. Nur die Augen waren für Peers Geschmack seltsam anmutend. Denn in der grünen Iris eines jeden Auges befand sich, säuberlich um die Pupillen herum, ein Muster aus stechend gelben Flecken.
Sie waren beide kaum älter als zwanzig und wirkten völlig entspannt. Mit der Miene freundlicher Verkäufer musterten sie Peer. Die beiden sprachen kein Wort, sondern lächelten nur breit. Die Zähne waren makellos und die Lippen von angenehmer Schmäle.
Peers Schockstarre ausnutzend, nahm der linke Eindringling ein Blasrohr zur Hand, zielte in aller Ruhe auf Peers rechte Schulter und legte sich das Rohr an den Mund.
„Entschuldige“, sagte der rechte, ohne seinen Gesichtsausdruck einzubüßen.
Der Mieter der aufgebrochenen Wohnung versuchte noch, sich zu ducken, aber da war es schon zu spät: Es pikste kurz unangenehm, dann fiel ihm die Gardinenstange aus der Hand, verursachte ein unangenehmes Geräusch, das aber dumpf in Peers wie leer gefegten Kopf verhallte