Wie an jedem Morgen, wenn Pennyflax auf Erkundungstour ging, bestand seine erste Tat darin, Fauch zu wecken, der im Werkzeugschuppen unter der Eiche auf einem Stapel Säcke schlief. Er hatte den Drachling vor zwei Jahren auf der Kargfelsen-Ebene gefunden, wie er dort ziellos umher getapst war, hatte ihn mitgenommen, aufgepäppelt, und seitdem waren sie unzertrennlich.
Verzwurbeldingst, dachte der Kobold bei sich, öffnete die Tür und spähte in die Dunkelheit des Schuppens hinein. Ich hätte damals Runkelrüben gestaunt, wäre mir klar gewesen, dass Fauch als Baby aus dem Feuerberg abgehauen war und der Sohn von Pyros ist, dem Drachen des Hexenmeisters! Bei seiner Suche nach dem Melodiekristall in den Tiefen des Vulkans war er nämlich mit dem feuerspeienden Ungetüm aneinander geraten und hatte auf diese Weise von der Verwandtschaft zwischen Fauch und Pyros erfahren.
»Aufgestanden!«, plärrte Pennyflax in den Schuppen hinein und fragte sich, wie lange der Drachling noch hier drinnen übernachten konnte. Denn in den vergangenen zwei Jahren war Fauch auf siebzig Zentimeter Länge herangewachsen und würde bald nicht mehr durch die Tür passen. »Raus aus den Säcken! Wir müssen heute die Vogelscheuchen auf den Windgrashügeln kaputt dingsen, damit die Raben was zu rauben haben!«
In der Dunkelheit der Hütte war bis eben ein Schnarchen zu hören gewesen. Auf einmal aber glühten zwei gelbe Augen auf, und eine Stichflamme loderte in Pennyflax’ Richtung. Gerade noch rechtzeitig vermochte er sich zu ducken, doch sowohl sein Schlapphut als auch seine Wuselhaare, die darunter hervorschauten, fingen Feuer. Glücklicherweise musste er nur ein paar Schritte rückwärts machen und stand wieder im strömenden Regen, der den Brand sofort löschte.
Fauch flatterte aus der Hütte, beschädigte wegen seiner Größe den Türrahmen und landete vor seinem Herrchen. Missmutig blinzelte er zum Himmel hoch. Dabei lief ihm Wasser in die Nase, was ihn zu einem heftigen Niesen veranlasste. Wie ein begossener Pudel schüttelte sich der Drachling den Regen von den Flügeln und den roten Schuppen, zog seinen Schwanz ein und wollte zurück in seinen Unterschlupf tapsen.
Pennyflax aber griff in seine Tasche, zückte einen Feuerstein und rief lachend: »Dageblieben! Ich weiß ja, dass du keinen Regen magst. Aber du wirst mich doch nicht die ganze Arbeit mit den schäbigen Scheuchen alleine machen lassen, gelle?! Hab auch was für dich, wenn du mir hilfst …«
Fauchs Miene hellte sich auf, als er sein Frühstück erblickte. Mit einem einzigen Satz hüpfte er zu seinem Herrchen zurück, schnappte ihm den Feuerstein aus der Hand und zerkaute ihn genüsslich. Es knirschte, Rauchwölkchen quollen aus seinen Nüstern, und nachdem er seine Mahlzeit verschlungen hatte, glühten seine gelben Augen umso heller.
Pennyflax streichelte den Drachling, der ihn im Sitzen bereits um zehn Zentimeter überragte, und verließ zusammen mit ihm sein Grundstück, um nicht noch mehr Zeit an diesem wunderbaren Herbstmorgen zu vertrödeln.
Während er den Waldweg am Rauschebach entlang marschierte, wünschte er denjenigen Kobolden einen miesepetrigen Morgen, die gerade aus ihren Wurzelhöhlen traten, von ihren Baumhäusern kletterten oder in ihren Gärten werkelten. Wie zum Beispiel Schlonzo der Tüftler, der mal wieder an irgendeiner tollen Erfindung bastelte und von dem sich Pennyflax eine Säge auslieh. Dabei handelte es sich zwar bloß um eine Nervensäge, die aber ihren Zweck gewiss erfüllen würde. Am Ortsausgang warf er flugs einen Blick in die Dreieckfenster der letzten beiden Häuser, doch sowohl seine Freundin Shirah als auch Meister Snagglemint, der 589 Jahre alte Magiker des Dorfes, schienen noch an ihren Kissen zu horchen.
Schließlich überquerten Pennyflax und Fauch die alte Steinbrücke, die sich über den Rauschebach schwang, und wanderten von Garstingen aus Richtung Nordwesten, wo die Windgrashügel lagen.
***
Die Landstraße schlängelte sich wie ein graues Band zwischen den Wiesen und Feldern hindurch, führte an Senken vorbei, in denen der Nebel waberte, und verschwand am Horizont in den tiefhängenden Wolken, von denen ab und zu der Donner herüber grollte. Auch über den beiden Freunden zogen dicke Regenwolken dahin, die ihre Last mit der ganzen Inbrunst des Herbstwetters entluden.
Unterwegs patschte der Kobold mit seinen großen Füßen in jede Pfütze hinein, die ihm unterkam. Und da die Straße verflixt viele Schlaglöcher aufwies, geriet er ziemlich ins Schwitzen, weil er nicht wusste, wie er die ganzen Pfützen abarbeiten sollte, ohne bis morgen dafür zu brauchen. Bedauerlicherweise hatte Fauch überhaupt keinen Spaß bei dieser wässrigen Witterung, weshalb Pennyflax die Pfützen irgendwann Pfützen sein ließ und sich lieber um sein Frühstück kümmerte: Er sammelte fünf dicke Regenwürmer am Wegesrand auf und schlürfte sie mit Genuss hinunter. Und zum Nachtisch aß er einen faulen Apfel.
Einmal mehr war er für seine ledrige, braune Haut dankbar, die ein wenig an Baumrinde erinnerte und ihn vor der Kühle der Jahreszeit schützte. Dafür ging ihm sein dichtes Wuselhaar auf die Wanze, weil es ständig in alle Himmelsrichtungen abstand. Immerhin war er so gezwungen, die Haarpracht mittels seines Schlapphuts zu bändigen, in dessen Krempe man wunderbar eine kleine Flasche unterbringen konnte. Diese befüllte er am liebsten mit dem Saft frischer Himbeeren von der Hecke bei der Rauschebachbrücke. Da Himbeeren aber nun mal Sommerfrüchte waren und die Brombeerzeit ebenfalls vorüber war, blieben im Moment nur einige restliche Holunderbeeren übrig. Deren Saft schmeckte zwar bitterlich, schützte jedoch gegen Erkältungen, die bei Kobolden von zu viel Sonnenschein hervorgerufen wurden.
Sogleich machte Pennyflax an einem Holunderbusch Halt, griff sich eine Handvoll der schwarzen, perlengroßen Früchte und quetschte den dunkelroten Saft in sein Fläschchen hinein. Hinterher steckte er sie in seine Hutkrempe zurück und wischte die Hände mit diebischem Vergnügen an seiner Hose ab, was aber zu seinem Bedauern keine nennenswerten Flecken hinterließ, da der Stoff gleich wieder vom Regen ausgewaschen wurde.
Nach insgesamt einer Stunde Fußweg, in der Fauch jede Deckung ausgenutzt hatte, die sich ihm vor den Wolkenbrüchen bot, erreichten die beiden die Windgrashügel.
Die Hügel trugen ihren Namen nicht umsonst, denn erstens wehte der Sturm in diesem Gebiet Eraluvias besonders stark, und zweitens verursachten die dichten, langen Grasbüschel auf den Hügelspitzen ein Pfeifgeräusch. Doch nicht nur das Gras wuchs auf den Hügeln, sondern auch das Klabauterkraut. Gelb blühende Pflanzen, die von den Zwergen, die in der Gegend lebten, angebaut wurden und deren Samenkörner nach Zitrone schmeckten. Aus den Samen wurde die berühmte Meerschaum-Limonade hergestellt, von der schon so manch einer die Seekrankheit bekommen hatte, oder, im schlimmsten Falle, morgens mit einem Holzbein erwacht war. Die Raben wiederum, welche die Hügel umkreisten, störte das überhaupt nicht. Sie hätten den ganzen Tag von den leckeren Klabauterkraut-Samen naschen können, wäre da nicht das dutzend Vogelscheuchen gewesen, das ihnen Angst einjagte.
Pennyflax hatte die zwölf lästigen Strohmänner schon oft umgekippt, ihnen das klappernde Besteck von der Kleidung entfernt oder ihre Tarnung auffliegen lassen. Aber die Zwerge waren ein stures Völkchen und dachten sich immer neue Bosheiten aus. Um den Raben und Krähen nämlich eine Falle zu stellen, verkleideten die Zwerge ihre Vogelscheuchen als Verkehrspolizisten, Fahrkartenkontrolleure oder sogar Schuldirektoren. Mehrmals hatte Pennyflax beobachtet, wie die armen Vögel schuldbewusst auf den Strohfiguren gelandet waren und mit gesenktem Kopf auf ihre Ermahnung oder ihren Bußgeldbescheid gewartet hatten. Mit anderen Worten: Schon allein aus Tierschutzgründen mussten die schäbigen Scheuchen weg! Deshalb stapfte der Kobold voller Tatendrang und mit Fauch im Schlepptau den erstbesten Windgrashügel hinauf, um mit seinem Tagwerk zu beginnen.