JAMES HARRISON. Konstantin Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Konstantin Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738079739
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stand eine einsame Garage, deren Einfahrt von hohem Gras überwachsen war.

      Es war lange her, als wir uns hier eingerichtet hatten. John hatte sie damals meinen Freunden und mir bereitgestellt, nachdem wir immer mein - für vier Teenager zu kleines - Zimmer belagert hatten. Ein Tisch in der Mitte des Raumes, vier Stühle drum herum, ein Bildschirm an der gemauerten Wand und ein PC in der hinteren Ecke. Das war alles, was wir in den letzten Jahren gesammelt hatten. Dazu kam ein Bücherregal, das das ehemalige Stahltor verdeckte, und ein Spiegel, auf dem man durch ein raffiniertes Röhrensystem den Eingang im Blick hatte.

      Ich blickte auf meine Armbanduhr. Vor fünf Minuten hatte ich Rosy angerufen. Wenn sie sich beeilen würde, müsste sie in den nächsten Minuten kommen. Doch ich kannte ihre Mutter. Sie legten sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. Und wenn man während dem Essen den Tisch verlies, konnte sie schnell zur Furie werden. Also trabte ich zum Bücherregal, zog den dicken Wälzer Leben im Auge des Todes heraus und ließ mich auf den knautschigen Sessel nieder. Das Lesezeichen lag auf Seite 253.

       Der Wind peitschte im Flug durch meine Haare. Fill trug mich wie auf Kissen über die Lavafelder. Dort, weit in der Ferne, sah ich die Umrisse des riesigen Schlosses, wo er irgendwo sein musste und auf mich wartete. Ja, er muss mich im Kampf schlagen. Ich würde dem Tod nicht in die offenen Arme laufen und wie ein kleines Kind darauf warten, dass es geschah. Ich würde kämpfen und so viele Leben retten, wie es nur ging.

      Ich schlug das Buch zu. Das konnte mich jetzt schwerlich aufheitern. Was wäre, wenn sich Steve auf solch einer Reise befand? Auf einer Reise in den Tod? Schlüsselgeklimper an der Tür riss mich aus meinen Gedanken.

      Ein rothaariges Mädchen mit leuchtend blauen Augen trat ein. Sie war in eine schwarze Daunenfederjacke eingehüllt. In vielerlei Hinsicht ähnelte sie meiner Mutter erschreckend stark.

      »James! Was ist denn los?«

      Sie sah gehetzt und angespannt aus. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Augen hefteten mich fest.

      »Steve und seine Eltern wollten heute zu uns kommen. Simone und Alfred kamen pünktlich, Steve jedoch wollte mit dem Fahrrad her radeln, wurde aber auf dem Weg hierher angegriffen.«

      »Angegriffen?!«, fragte Rosy entsetzt.

      »Ja. Vermutlich von den Fosit. Rosy, weißt du etwas über die Kobruswölfe?«, hakte ich nach, gespannt das Buch umklammernd.

      »Mir hat William nur gesagt sie seien eine von den Fosit gezüchtete Wolfsart«, sagte sie mit erstickter Stimme. Ich nickte.

      »Gut. Denn wir glauben, das Steve von einem Kobrus angefallen wurde. Steve liegt in einem Art Trauma oder so und John versucht mehr über die Wolfsart herauszufinden.«

      Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte mich entsetzt und ungläubig an.

      »Die Fosit… warum?«

      »Das haben wir uns auch schon gefragt. Vielleicht hängt das mit meinem Icerotes zusammen«, sagte ich und stellte das Buch zurück in das Regal.

      »Stimmt ja, du hast dein Icerotes bekommen.« Ich nahm Libras hervor und reichte Rosy den Griff.

      »Sein Name ist Libras. Frag nicht, was mein Schicksalsspruch ist. Wir konnten ihn nicht entziffern.«

      »Nicht? Das ist ungewöhnlich.«

      Sie gab mir Libras zurück und schloss ihre Augen. Schließlich sagte sie: »Kann ich zu Steve?«

      Zügig gingen wir zurück ins Haus. Dabei sah ich einen Angler nicht allzu weit weg am Bach sitzen. Er war korpulent und trug eine karierte Mütze auf seinem Glatzkopf. Eine altmodische Gaslaterne erhellte ihn und seine Umgebung. Ich bezweifelte, dass er hier, zu dieser Jahreszeit, größere Fische fangen würde. Schweigend saß er da und lauschte dem Plätschern des Wassers. Das glaubte ich zumindest. Seine Angelrute hatte er am Ende in den Boden gesteckt, doch der Faden regte sich nicht.

      »Was macht der noch um diese Uhrzeit hier?« fragte Rosy. Ich zuckte die Schultern.

      Vor der Haustür kniete Mina. Sie hielt eine Vase mit frischen Tulpen in den Händen. Was suchten diese Blumen hier im Freien? Ich kannte mich zwar nicht mit Blumen aus, zumindest aber wusste ich, dass Tulpen im Herbst nicht im Freien stehen sollten. Verwirrt ging ich an ihr vorbei.

      John saß noch in unserer Bibliothek, das Telefon in der Hand und die Augen an den Bildschirm des PCs geheftet.

      »Dad, hast du schon…« fing ich erwartungsvoll an, woraufhin mein Vater zischte und seine Hand hob, um mir Schweigen zu gebieten. Doch es dauerte nicht mehr lang, bis sich mein Vater von seinem Gesprächspartner verabschiedete und den Hörer zurücklegte.

      »Und?«, fragte ich gespannt. »Kennt Lesar den Kobrus?«

      John versuchte zu lächeln. »Zu unserem Glück konnte mir mein alter Freund etwas erklären.«

      Rosy und ich lauschten gebannt und er fuhr fort: »Die Kobrus sind eigentlich in Südaustralien beheimatet und nicht in Amerika. Sie wurden nur in die Vereinigten Staaten importiert.«

      »Und das heißt?«, fragte Rosy.

      »Das heißt, Lesar kennt sich mit dieser Wolfsrasse aus. So erklärte er mir, dass das Gift den Menschen in eine Starre versetzt. Als Winterschlaf könnte man es bezeichnen. Das Gegengift ist das Öl der sogenannten Kolibripflanze, welche ziemlich selten ist und nur in einem ganz bestimmten Gebiet auf dem australischen Kontinent wächst. Da es so selten gebraucht wird und nur schwer zu beschaffen ist, gibt es das Öl nicht auf Vorrat. Dennoch braucht Steve das Gegengift. Denn irgendwann wird seine Körperenergie vollends aufgebraucht sein. Und das heißt…« John seufzte, doch ich beendete den Satz optimistisch: »…dass wir nach Australien müssen.«

      Rosy ließ den Kopf hängen und um die unruhige Stille zu brechen, fragte ich zweifelnd: »Kann nicht Lesar das Gift für uns besorgen?«

      »Das soll eine ziemlich schwierige Aufgabe sein. Und eine riskante dazu. Man muss viel Glück und einen erfahrenen Kopf haben, um sie finden zu können«, erklärte John.

      »Willst du etwa mit ansehen, wie das Leben aus Steve heraus sickert, Dad?«, fuhr ich meinen Vater an, härter als ich beabsichtigt hatte.

      »Es ist schwer. Die ganze Organisation, die Hilfe, die wir benötigen werden, die Zeit. Es dauert eine halbe Ewigkeit, um nach Australien zu fliegen. Bis wir die Pflanze gefunden haben und wieder zurück sind… Wer weiß, ob Steve überhaupt noch so viel Zeit bleibt?«, murmelte mein Vater.

      »Dennoch. Wir werden es versuchen müssen. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Wir müssen nach Australien.«

      Flugzeuge sind nicht Jedermanns Sache

      Ich war müde.

      Heute Morgen war ich mit dem schönen Gedanken, einen ganz normalen Tag zu verbringen, zusammen mit meinen Freunden und Libras. Und jetzt? Jetzt stand ich in meinem Zimmer, neben mir lag Steve im Sterben, und packte achtlos Dinge zusammen, die ich auf einem Flug nach Australien brauchen könnte. John hatte noch in derselben Stunde, in der die Reise zum fernen Kontinent beschlossen worden war, über seine Firma einen Privatflug buchen können, der uns von Zürich nach Adelaide bringen sollte. Entgeistert hatte Mina diese Information entgegengenommen, wortlos und doch im Bewusstsein, dass es sein musste. Steves Eltern hatten nicht weniger überrascht und entsetzt reagiert. Alfred hatte darauf bestanden, mitzukommen. Doch John hatte es ihm erzwungener Maßen ausreden können. Er würde verrückt werden, würden wir die Pflanze, das Gegengift für seinen Sohn, nicht finden können. Es war für sein eigenes Wohlergehen das Beste Zuhause zu bleiben. Doch gab es da noch ein Problem. Rosy wollte auch mit, zusammen mit John und mir. Sie begründete es damit, dass sie Steves beste Freundin sei und tatenlos verrückt werden würde. Ihre Eltern wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Ihre Tochter alleine nach Australien zu lassen war für sie ausgeschlossen. Johns Überredungskunst war es zu verdanken, dass sich am Ende Sam und Natalie geschlagen gaben. Jetzt saß sie, auf ihren Rucksack wartend, in der Küche. Sam wollte ihn ihr bringen,