Na, vielleicht schaff ich es ja doch noch.
Fragen muss ich jetzt aber andere, ihn kann ich nicht mehr fragen.
Einige Abende später hörte ich, wie Bert in seinem völlig bewucherten Garten mit der Säge zugange war. Ich schnappte mir zwei Bier und überstieg die nicht erkennbaren Grundstücksgrenzen. Mein Garten sah ähnlich verwildert aus.
Dort, wo wir wohnten, konnten wir uns solche Nachlässigkeiten leisten. Immerhin jedoch hatten wir beide im Sommer Schmetterlinge im Garten und keine Sorgen, wie wir unseren Wimbledonrasen vor irgendwelchem streunenden Getier schützen sollten.
Das nächste Grundstück war hinter dem Acker, der in diesem Sommer mit Mais bepflanzt war. Dahinter kam dann schon das Zwischenahner Meer. Das liegt in der Nähe von Oldenburg bei Bremen.
Ich half ihm schnell beim Beseitigen eines toten Birnbaums. Danach setzten wir uns in zwei an einer Eiche angebrachte Hängematten und genossen den leise ausklingenden Tag.
Neben den Eichen befand sich ein trockener Brunnen.
Der Vorbesitzer des Hauses hatte den holprig gemauerten Brunnen wie in der griechischen Heimat mit einer langen Wippe ausgestattet. Der Sockel der Wippe war noch intakt.
Am oberen Ende der Wippe war eine Kette angebracht, dann folgte ein langes Seil, das bis zum Grund des Brunnens reichte. Die Wippe seines Brunnens stand senkrecht. Eigentlich war es eine Peitsche aus jungem Birkenholz, ein bestimmt fünf Meter langes Stück Holz,
Das Gegengewicht bestand aus einem alten Rad eines Pferdefuhrwerkes.
Der Brunnen war nie zu Ende gegraben worden.
Somit lediglich Schmuck seines Gartens.
Ich erfuhr, dass er nach der Schulzeit, in dem Monat, in dem die Helsinkier KSZE Schlussakte unterzeichnet worden war (da war seine Datumsmacke wieder), also im August 1975, eine Lehre begonnen hatte. BMSR sagte er. Ich erinnere mich genau.
Betriebs-Mess-Steuerungs- und Regeltechnik.
Danach knallten wir uns erst einmal deutsch-deutsche Abkürzungen an den Kopf.
Wäre es ein Wettkampf gewesen, verdammt, ich bin sicher, er hätte gewonnen.
Während der Lehre überredete ihn sein Kumpel, Dirk Färber, doch einfach mal zum Tauchen mitzukommen. Bert war nach dem ersten Training begeistert. Das wollte er. Das war sein Ding.
Innerhalb eines halben Jahres hatte er alle Berechtigungsscheine in der Tasche. Bert Klose wurde der stellvertretende Übungsleiter im Tauchclub „Nautilus“. Sein Ehrgeiz ging dem alten Schulfreund, Dirk Färber, derartig auf die Nerven, dass dieser den Sport aufgab. Von da an ging Dirk angeln.
Die Lehre von Bert Klose aber, litt keineswegs unter Berts Engagement beim Tauchen.
Im Gegenteil.
Bert baute sich in der Lehrwerkstatt gemeinsam mit seinem Lehrausbilder einen eigenen Lungenautomaten, bei dem die ausgeblasene Atemluft nicht mehr vorn vor der Tauchmaske aufstieg, sondern links und rechts an der Maske vorbei geleitet wurde. Bessere Sicht war das Ergebnis.
Er war ein Tüftler, ein Weitermacher, ein Stillstandshasser, ein Zu-Ende-Denker.
Mit dieser Ausbildung in Sachen BMSR hätte er im Osten was werden können. Abschluss der Ausbildung mit einer blank polierten Eins. Er bewarb sich bei einer Schiffswerft irgendwo im Norden. Allerdings kam vorher der Dienst in der Ostarmee.
Irgend so ein Parteibonze aus dem Betrieb gab Bert und dem Wehrkreiskommando einen Tipp. Einen dezenten Hinweis wegen des Tauchens. Daraufhin wurde Bert an die Ostseeküste nach Stralsund versetzt. Er wurde Bergetaucher.
Dachten alle.
Bert Klose
Als wir die Schule 1975 verließen, gab es eine große Abschlussparty. Es war der 19. Mai. Genau an diesem Tag hatte die Japanerin Yunko Tabei mit lediglich einem Sherpa als erste Frau den Mount Everest bestiegen. Der Saal vom Kulturzentrum am Arnimplatz war brechend voll. Vier zehnte Klassen wurden an diesem Abend verabschiedet. Mehr als einhundertzwanzig Schüler nebst familiärem Anhang. Ich saß mit meinen Eltern am selben Tisch wie Dirk und dessen Familie. Dirk Färber war sichtlich erwachsen geworden. Mit seinen hellblonden Haaren und den schwarzen Augenbrauen war er für die meisten Mädels ein erstrebenswerter Fang. Für viele Sehnsüchtige blieb er nur ein Blickfang. Er war mehr als einen Meter achtzig groß, schlank und konnte mit seinem verschmitzten Blick reihenweise Mädchen zum Schmelzen bringen. Kein Mensch wusste, dass Vera kommen würde. Sie betrat den Raum in einem Kleid, welches an die Zeit von Audrey Hepburn erinnerte. Mode der späten fünfziger Jahre. Nur bei Dirk und mir setzte die Atmung aus. Keiner der anderen Mitschüler erkannte Vera. Wie sie später erklärte, durfte sie sich das Kleid aus dem Fundus des Berliner Ensembles ausleihen. Ihre Mutter war in dieser berühmten Ostberliner Bühne die Personalchefin. Seit Vera ihr Interesse für Mode entdeckt hatte, kleidete sie sich immer wieder dort ein. Durch die Reihen schreitend, nicht gehend, sandte sie grüßende Blicke an ihre ehemaligen Klassenkameraden. Dann ging sie brav Guten Abend sagen am Tisch der Klassenlehrerin. Schon während des kurzen Wortwechsels an diesem Tisch suchte ihr Blick aber uns. Sie sah einfach nur hinreißend aus. Das Kleid untermalte ihre sportliche Zierlichkeit. Der Braunton zauberte ein anmutiges Farbkontrastspiel mit ihren hochgesteckten, kastanienbraunen Haaren. Dann stand sie endlich bei uns. Grüßte uns mit dem frechsten Grinsen, zu dem sie fähig war und setzte sich genau zwischen Dirk Färber und mich. Ich saß perfekt, um sie anzuschauen. Der untere Rand des Schattens ihrer schmalen Nase hatte eine Verabredung mit dem süßen Leberfleck rechts unter ihren mit Grübchen geschmückten Mundwinkeln. Sie war nicht dezent, sie war nur untermalend geschminkt. Die Grundausstrahlung ihrer Schönheit war pure Natur. In diesem Moment begriff ich, was Dirk Färber in der ersten Klasse schon gesehen hatte. Ich würde sie ihm nie streitig machen. Sie war nicht mehr unser beider Vera. Sicher. Dirk kochte. Sein Gesicht hatte die Endstufe der Farbe Rot schon erreicht. Ich blickte unter den Tisch. Vera hatte die Schuhe ausgezogen und spielte mit ihrer linken großen Zehe mit der Socke des Freundes. Sie versuchte, die Socke nach unten zu ziehen. Dirks Hände ruhten verkrampft in seinem Schoß. Sie wollte mehr von ihm, als er jetzt in der Lage war zu geben. Sie würde seine Freundin werden, meine nicht. Sicher. Ich war bis in die letzten Nervenrezeptoren unter meiner Haut in Vera verliebt. Das war ganz sicher.
Reginald Hübler
Ich hatte bei Bert schlafen müssen.
Selbst die hundert Meter, die mein Bett von seinem Sofa trennten, hätte ich in keinem Fall mehr bewältigen können. Es war eine Mischung aus verminderter Nahrungsaufnahme und dem Verkosten des von Bert selbst angesetzten Schnapses. Er nannte ihn liebevoll Garlix. Nach dem englischen Begriff Garlic für: Sie erraten es, oder wissen Sie es (?) - Knoblauch. Knoblauchschnaps.
Nach einem ewig langen Ermittlungstag, der am Vortag des Garlixabends sehr früh begonnen hatte, suchte ich einfach ein Gespräch mit einem normalen Menschen.
Weshalb ich bei dieser Suche bei Bert landete?
Nun, die nächste Chance wäre ohne Umweg eine Strecke von einem Kilometer durch ein morastiges, ehemaliges Maisfeld gewesen. Außen rum um dieses Feld hätte ich zu Fuß mehr als eine Stunde gebraucht. Es ging nur zu Fuß, denn ich wollte mich betrinken.
Da ich den ganzen Tag noch nichts wirklich Essbares zu mir genommen hatte, wollte ich mich bei Bert einladen. Es endete in einem Gulasch mit Sahne und einem formidablen Birnensorbet.
Hinweise auf dessen Ingredienzien fanden sich beim Erwachen in der halb mit Wasser gefüllten Schüssel auf dem Fußboden am Kopfende von Berts Sofa.
Ich erinnerte mich deutlich, an diesem Tag frei zu haben.
Aus der Scheune hörte ich Geräusche. Da nur Bert hier wohnte, setzte ich voraus, Bert dort zu finden. Nicht schlecht für einen Kriminalisten mit sicherlich mehr als zwei Promille im Blut.
Über den mit Schneegriesel