Irgendein unheimlicher Jemand war gerade über mein Grab gelaufen.
Als das dumpfe Pochen des Türklopfers in der Mittagshitze verhallte, öffnete ein kleines, dürres Männchen von schätzungsweise über achtzig Jahren, begrüßte mich mit einem in Grimm getunkten Blick und murmelte etwas, das mich wieder einmal gegen die Grenzen meiner humanistischen Bildung prallen ließ und spontan verärgerte.
„L’exactitude est la politesse des rois, wie Ludwig XVIII so treffend zu sagen pflegte.“
Politesse und rois bekam ich noch hin, doch l’exactitude war, falls es sich dort jemals aufgehalten hatte, meinem Vokabelgedächtnis seit Längerem entschwunden.
„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, übersetzte das Butlermännchen höflich, während meine Ohren noch dem scharfen Was? meiner Stimmbänder hinterherlauschten.
Wie bereits erwähnt, fiel dieser Kundenbesuch nicht in die toleranteste Zeit meines Lebens, und seit Wochen schon hielt ich mich mit eisernem Zügel zurück, nicht jeden in seine atomaren Bestandteile zu zerpflücken, der mir komisch kam. Wobei komisch eine so breite Palette umfasste, dass letztendlich alle meine Reaktionen unberechenbar waren.
Ich mochte mich nicht, warum sollte ich da andere mögen?
Denk an das Geld, schärfte ich mir ein, als ich dem Türöffner durch einen langen dämmrigen Korridor in ein großes, dämmriges Zimmer folgte. Viel zu viel Zeit für mich, meine Verspätung - keine halbe Stunde - aufs Umständlichste zu erklären. Das Auto war nicht angesprungen, der Nachbar musste mit einem Starterkabel aushelfen, ich erwischte die falsche Straße und landete am Finkenborn. Erst gegen Ende der Lügerei bemerkte ich die vergessene Fahrradklammer am Hosenbein, und mein Führer antwortete dann auch mit einem Schweigen, das mir geradezu in den Ohren brüllte.
Holzdielen knarrten unter meinen Füßen, Staub juckte auf meiner Haut, und die Muffigkeit, vermischt mit Essensdünsten, ließ mich nur widerwillig atmen. Während meine Augen noch versuchten, sich an die Dämmerung zu gewöhnen, klappte in meinem Rücken eine Tür. Der Butler hatte mich pflichtgemäß abgeliefert und ging seinen sonstigen Butlerpflichten nach.
„Hallo?“, fragte ich aufs Geratewohl ins Zwielicht, spähte mit Eulenaugen umher und glaubte als Antwort das Quietschen eines eingerosteten Mechanismus zu hören. Sehen konnte ich so gut wie gar nichts. Es war nur ein matter Schimmer, der die schweren Vorhänge durchdrang. Ich erkannte lediglich die Umrisse von Möbeln, etwas, das kniehoch war, vier Beine hatte und reglos in einer Ecke stand und einen großen dunklen Schatten in Richtung des Quietschens. Ich brauchte etwa zehn Sekunden, um die Geduld zu verlieren. Bis zur Tür waren es nur drei Schritte rückwärts, meine Finger ertasteten den Lichtschalter, es klickte - und die Dunkelheit blieb.
Der Schatten kicherte belustigt. „Stromausfall. Seit zehn Minuten“, erklärte eine Stimme, die mich, wie schon bei unserem Telefonat, in ihrem Wohlklang so eigenartig berührte, dass sich mein Magen verkrampfte. „Aber falls Sie die Dämmerung nicht ertragen können, dürfen Sie ausnahmsweise die Vorhänge aufziehen. In meinem Alter ist man nicht mehr erpicht darauf, die Welt dort draußen einem so fröhlich ins Antlitz blicken zu lassen. Die Würmer werden sich früh genug wieder zu mir durchgebissen haben.“
Die Verkrampfung meines Magens verstärkte sich, diesmal allerdings aus anderen Gründen. Meine eigene Stimmung war schon zu morbide, um das Geräusch prasselnder Erde auf einem Sarg ertragen zu können. Ich beeilte mich, an die Vorhänge zu kommen.
Die Abendsonne blieb aus. Im Laufe der Jahre, die das Wesen im Rollstuhl vor mir schon auf die Würmer gewartet haben mochte, waren die Fenster von dem Unkrauturwald rings ums Haus nahezu zugewachsen. Das Dämmerlicht hellte sich lediglich auf und färbte sich grünlich. Aber es reichte, meine Gastgeberin zu mustern. Sie tat ein Gleiches mit mir, und es ist schwer zu sagen, ob einer von uns beiden zu dem Ergebnis sympathisch kam. Sie mochte im Alter ihres Butlers sein, besaß aber im Gegensatz zu ihm einen beeindruckenden Schopf goldblond gefärbter Locken, die ihr bis auf die Schultern hingen. Die Augen, deren Farbe ich nicht erkennen konnte, lagen schon tief in den Höhlen, und zwei scharfe Halbmonde hatten sich rechts und links der Mundwinkel in die Wangen gegraben. Ansonsten war ihr Gesicht so glatt wie auf den Werbepostern eines Schönheitsoperateurs. Lediglich ihr fahler, faltiger Hals verriet das hohe Alter. Er ging in ein mit Altersflecken gesprenkeltes Dekolleté über, das ein köchellanges Kleid aus grober weißer Baumwollspitze großzügig zur Schau stellte. Ihre Finger, von denen jeder bis auf die Daumen mit ein bis drei Ringen bestückt war, umklammerten die Reifen des Rollstuhles. Ihre nackten Füße lugten Zentimeter oberhalb der Fußstützen unter der Baumwollspitze hervor, knochig, mit verkrümmten Zehen und knallrot gefärbten Nägeln.
Die muffige Hitze staute sich, und der Schweiß stand mir auf der Stirn.
„Sie also sind Delia A. Pusch“, stellte sie fest und rollte mit quietschenden Reifen näher. Auf ihrem Schoß lag eine schwarze Fernbedienung. Einen Fernseher konnte ich zwar nirgendwo entdecken, aber mir war, als hörte ich ein permanentes, kaum wahrnehmbares Summen im Hintergrund. Irgendwo lief irgendein Gerät. „Wofür steht das A.?“
Eine Standardfrage, die ich unerwünschten Mannsbildern gegenüber mit arbeitslose, aggressive Alkoholikerin zu beantworten pflege. Spätestens bei Alkoholikerin kapitulieren sie. Angesichts der ruhigen Züge einer alten, kleinen Frau, die in einem viel zu großen Rollstuhl hockte und früher, wenn mich das grüne Licht nicht trog, eine Schönheit gewesen sein musste, fiel mir auf die Schnelle nichts Passendes ein.
„Amaryllis“, erwiderte ich daher der Wahrheit gemäß, aber in angemessen warnendem Ton, das Thema dabei zu belassen.
Doch es schien sie ohnehin nicht mehr zu interessieren. Ihr Blick schweifte zu dem vierbeinigen Wesen hinüber, das ich in der dunkelgrauen Dämmerung für die Silhouette eines Tieres gehalten hatte und nun, im grünen Licht, in der Tat als Hund erkannte. Ein kniehoher Flokati mit großem Kopf, dunklem Rückenfell und weißem Bauch, mit langen Fransen über den Augen und einer roten Zunge, die ihm weit aus dem geöffneten Maul hing. Ein Wuschelhund, welche Rasse auch immer. Nachdem ich ihn eine Weile misstrauisch beäugt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er gar nicht daran dachte, eins seiner Beine in Bewegung zu setzen. Er zuckte nicht einmal mit den Schlappohren, sondern stand einfach nur da und streckte mir die Zunge raus.
„Ein Polski Owczarek Nizinny“, beantwortete sie die Frage, die ich für ihre Standardfrage hielt, ohne selbst in Versuchung geraten zu sein, sie zu stellen. „Ursprünglich ein Hütehund aus dem polnischen Tiefland. Ein Temperamentsbündel zu seiner Zeit.“ Sie seufzte, und ihr Blick verlor sich ganz offensichtlich in einer Vergangenheit voll herumtobender polnischer Hütehunde. Auch er schien in die Jahre gekommen zu sein, und da mich Hunde nicht mögen, ein reziproker Prozess womöglich, empfand ich für seine Zurückhaltung Dankbarkeit und bewunderte aus der Ferne sein breites Halsband mit den funkelnden Strasssteinen. Doch F.C.‘s nächste Worte trafen unter die Gürtellinie.
„Es geht um ihn. Ich bezahle Sie dafür, Churchill mitzunehmen und ihn nach meinem Tod demjenigen meiner Erben auszuhändigen, der ihnen eine testamentarische Legitimation seines Anspruches nachweisen kann.“
Ich öffnete den Mund zu einem von Herzen kommenden Ich denke gar nicht daran!, als sie ein paar unbedeutende Worte hinzufügte. „Tausend Euro für diesen ersten angefangenen Monat und tausendfünfhundert für jeden weiteren.“ Meine Lippen schlossen sich wieder, hinter meiner Stirn begann es zu rotieren. Ich hasste Hunde - ich hasste sie wirklich von Herzen - aber mindestens ebenso hasste ich den Gedanken an mein leeres Konto und den Verzicht auf meine Käsecracker und den abendlichen Rotwein. Letzte Woche erst hatte sich Eiko, mein knapp sechzehnjähriges, obdachlos spielendes