Als sie die Tiefgarageneinfahrt hochfuhr, rutschte scheppernd etwas am Auto herunter. Sie parkte am Gehsteig, lief die Einfahrt herunter und sah den Wohnungsschlüssel am Boden liegen, den sie auf dem Autodach deponiert und dann vergessen hatte. Sie drehte ihn in ihren Händen, gab sich einen Ruck und lief zum Haupteingang. Gerade als sie den Schlüssel in den Briefkasten schmeißen wollte, fiel ihr der automatische Garagentüröffner ein. Nein, sie wollte nichts mitnehmen, was sie zwingen würde, wieder Kontakt aufzunehmen. Diese geplanten Schlupflöcher gehörten ab heute der Vergangenheit an. Sie holte den Öffner. Da er nicht durch den Briefkastenschlitz passte, musste sie notgedrungen noch einmal in die Wohnung zurück.
Den Öffner in der Hand stand sie einen Augenblick unschlüssig in der Diele. Dann entschied sie sich für einen Platz auf dem antiken Dielenschrank, dort wo auch Mori, die türkische Putzfrau, immer die Post sammelte, wenn sie beide unterwegs waren. Ihr Blick fiel in das Wohnzimmer, auf den großen alten Bücherschrank, ein Erbstück aus ihrer Familie, das moderne italienische Sofa mit den passenden Sesseln, vor knapp fünf Monaten hatte der Polsterer alles mit einem neuen Stoff bezogen, den Hanna nach langem Suchen in den Stoffabteilungen diverser Möbelgeschäfte endlich ausgewählt hatte. Die Lieferung der Ware dauerte mindestens ebenso lange, weil der ausgefallene Stoff in Italien bestellt werden musste. Ihre Hand strich über die Rückenlehne eines der Sessel und glitt über den angenehmen weichen Stoff.
Sie schüttelte sich, als wollte sie etwas abwehren, nahm kurz entschlossen das große Tuch mit dem orientalischen Muster vom Sessel, welches eine Freundin aus Tunesien mitbrachte und in das man sich in der Übergangszeit, wenn die Heizung noch nicht angestellt war, so wunderbar einrollen konnte, drehte sich um, starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers, sie hatte die Außenjalousien vorsorglich heruntergelassen, weil Diebe hier schon einmal versuchten einzubrechen, machte mit leicht vorgeneigtem Kopf einen Schritt in Richtung Tür, als lauschte sie auf Stimmen, das Tuch mit verschränkten Armen an die Brust gepresst, wich mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck zurück und verließ eilig die Wohnung, schloss die Wohnungstür ab, zweimal, warf den Schlüssel in den Briefkasten und lief wie gehetzt zum Auto.
Sie hatte tatsächlich Stimmen gehört, hauptsächlich ihre hohe erregte Stimme. Die Worte schienen noch nicht verhallt und hingen wie konserviert in der Luft, die noch nach den Ausdünstungen verschwitzter Körper der vergangenen Nacht roch. Es war keine Dunkelheit es war Finsternis in diesem Raum wie in einer unterirdischen Höhle von hässlichen Monstern bewohnt, Geifer und Hass klebten an den Wänden.
Sie musste weg, schnell und weit weg, bevor es ihr den Atem nahm.
Sie startete das Auto, erst an der nächsten Ecke legte sie den Sicherheitsgurt an und schaute auf die Uhr. Über zwei Stunden hatte sie zum Einpacken benötigt. Henning war unterwegs zu seinem Kunden in Norddeutschland. Jetzt war er sicherlich hinter Nürnberg. Seinen Anruf erwartete sie nicht. Aber auch wenn sie nicht antworten würde, würde er sich kaum Gedanken machen.
Die Sirene des Polizeiwagens schreckt sie erneut auf. Vor ihr sind die Leute aus dem Auto gestiegen, recken die Hälse, um etwas zu erspähen. Sie lässt das Fenster herunter und drückt mit dem Ellbogen auf die Türverriegelung und lächelt ihrem Vordermann zu. Er lehnt an der Leitplanke und raucht.
„Ein Unfall, na, das kann dauern“.
Sie zuckt die Schultern
„Kann man nichts machen“.
Zu dumm von ihr, sich so lange auf den ersten großen Parkplatz zu stellen. Sie hätte ja doch nicht umkehren können. Wohin hätte sie gehen sollen? Wie hätte sie alles erklären sollen?
Trotzdem hatte sie fast eine halbe Stunde auf dem Parkplatz pausiert und mit leeren Augen in die Gegend gestiert. Aussteigen wollte sie nicht aus Angst, dass jemand ihr Auto aufbrechen könnte. Warum hatte sie die SIM-Karte für das Handy schon sofort entsorgt und demonstrativ auf den Küchentisch gelegt? Sie hätte wenigstens bis zu ihrer Ankunft im Irgendwo warten können.
Seit Wochen hatte sie das Handy ständig mit sich herum getragen, damit sie nur keinen Anruf von Henning verpasste. Sie war schon fast in Panik geraten, wenn im Display kein Empfang angezeigt wurde. Deshalb vermied sie längere Aufenthalte im Keller und in der Tiefgarage, da der Empfang dort gestört war.
Wie zittrig klang ihre Stimme, wenn er sich endlich einmal meldete. Aber sein Geschäftston kühl und teilnahmslos oder knapp und unwirsch, brachte sie schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch es war ein Lebenszeichen und es hatte ihr genügt.
Sie kam sich plötzlich ganz verloren vor, ohne Halt, als wenn von diesem blöden Handy alles abhing. Sie hatte zu zittern angefangen, ihr war kalt und die Tränen waren nicht mehr zurückzuhalten.
Dann war sie doch ausgestiegen, zum Kiosk gegangen, das Auto immer im Blickfeld und hatte zwei Dosen Cola gekauft. Sie trank nie Coca Cola, aber zum Wachhalten war es das Beste. Sie hatte kein Auge zugetan heute Nacht, war immer wieder aufgeschreckt und hatte auf den entspannt atmenden Körper von Henning gestarrt. Wie konnte es sein, dass er sich einfach umdrehte und dann sofort eingeschlafen war, während der Nachhall der exzessiven Debatte noch immer ihren Körper vibrieren ließ.
Wie hatte sie auf ein erlösendes Wort gewartet. Von Henning? Und welches erlösende Wort?
Ich liebe Dich?
Sie hätte es ja doch nicht geglaubt.
Es tut mir leid?
Leere Floskel, aber vielleicht ein neuer Anfang.
Und wenn er heute nicht abgereist und zu Hause geblieben wäre?
Aber was hätte sein Bleiben geändert?
Es hätte nur die nächsten zermürbenden Auseinandersetzungen herauf beschworen.
Er machte es sich einfach und floh in seinen Job. Die Ausrede, wie immer, wichtiger Termin. Was war so wichtig an den geschäftlichen Terminen? Hier stand ihre Ehe auf der Kippe. Immer war Anderes wichtiger als sie Beide oder die Familie. Andere Männer oder Geschäftsleute sagten doch auch ihre Termine rigoros ab, wenn es um Familiäres ging. War es wirklich nur Feigheit oder bedeutete ihm die Familie nichts? Das hatte sich Hanna schon oft gefragt.
Und wenn er am Freitagabend wieder zurückkehrte, hatte er längst alles verdrängt und von Hanna angesprochen, hieß es immer, wir reden später darüber. Er schob Tausend Dinge vor, die er zu erledigen hatte, bis bei Hanna der Geduldsfaden riss und sie auf den Punkt kam. Dann ließ er sie reden ohne Widerspruch, bis sich ihre Stimme überschlug und sie nur noch schrie. Es machte sie wahnsinnig, dass er ihr so stumm gegenüber saß, so in Märtyrerpose. In diesen Augenblicken verlor Hanna meistens die Beherrschung und um wenigstens eine Regung von Henning zu erhalten, verteilte sie Schläge unter die Gürtellinie. Die Reaktion kam postwendend. Entweder Henning schäumte ebenfalls vor Wut und brüllte seine Gemeinheiten heraus oder er verabschiedete sich abrupt und zog sich endgültig aus der Affäre. Warum konnten sie kein normales Streitgespräch führen? Warum endete es immer mit Gemeinheiten?
Jetzt hatte sie allem ein Ende gemacht.
Ja, sie war zu lange abhängig gewesen. Wie ein ungeborenes Kind hing sie an der Nabelschnur Familie. Die Nabelschnur, die hatte sie jetzt zerschnitten.
In den Brummi neben ihr kommt Bewegung. Die Hydraulik keucht. Hanna steckt ein Stück Schokolade in den Mund, legt entschlossen die Hände auf das Lenkrad und startet den Wagen. Ein Auto aus der zweiten Spur schießt zwischen sie und ihren Vordermann.
„Blöder Kerl!“ Hanna tritt auf die Bremse „Ich muss mich konzentrieren“, sagt sie laut „zum Aufarbeiten habe ich noch genug Zeit “.
Langsam rollt die Autokolonne voran. An der Unfallstelle wird sie wieder langsamer. Alles bremst, obwohl der Polizist zum schneller fahren auffordert. Immer diese Gaffer. Sie ist ärgerlich und fährt schnell an der Unfallstelle vorbei. Trotzdem sieht sie für einen Augenblick den Blechhaufen an der Leitplanke. Sie dreht den Kopf zur Seite und sieht auf einen zweiten Wagen, der auf dem Dach unten am Hang liegt. Der Notarztwagen ist bereits weg, aber auf dem Grasstück hinter der durchbrochenen