„Und wenn wir ihn einfach vergraben?“, schlug sie vor.
Lysia schüttelt den Kopf, dabei lösten sich mehrere Locken aus ihrer Frisur und fielen ihr ins Gesicht.
„Ich glaube nicht, dass das klug wäre. Er könnte wieder an die Oberfläche gelangen, wenn der Regen die Erde aufweicht und wegspült. Oder schlimmer noch, er könnte, sei es durch puren Zufall, von jemand anderem gefunden werden.“
Die Todes Tochter brachte ein kurzes Nicken zustande. Nein, es war gewiss nicht klug, den Stein einfach unbeobachtet zu lassen und darauf zu vertrauen, dass niemand ihn je finden würde.
„Wir bräuchten einen Wächter“, sprach sie ihre Gedanken schließlich laut aus.
„Einen Wächter?“ Enago legte die Stirn in Falten. „Was meinst du damit?“
Auch die Seherin und das Orakel blickten Lia fragend an. Die Todes Tochter fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen, bevor sie den Mund öffnete, um ihren Gefährten zu antworten.
„Meiner Meinung nach kann es nicht schaden, wenn es einen Wächter für den Stein gibt. Eine Person, die sich der Gefahr im Inneren des schwarzen Steins bewusst ist und dafür sorgt, dass sie nie wieder ausbricht.“
Auf dem Gesicht der Seherin erschien ein Lächeln, das ihre wässrigen blauen Augen aufblitzen ließ. „Du meinst so, wie Lunus damals über den schwarzen Stein wachte.“
Lia nickte. Der Zauberer Lunus war damals, bevor er sie und die beiden ersten Todesritter erschaffen hatte, der Wächter des schwarzen Steins gewesen. Surah, die Göttin des Lebens und des Todes selbst, hatte ihn für diese wichtige Aufgabe auserkoren.
„Die Idee ist durchaus klug“, bestätigte Lysia und ließ ein kurzes Kichern ertönen. „Aber habt ihr schon vergessen, wie es dem Wächter, wie es Lunus damals letztlich erging?“
Stille breitete sich in der Höhle aus und nur das leise Knistern der Fackeln wurde von den schwarzen Wänden zurückgeworfen. Natürlich hatte niemand von ihnen vergessen, was letztendlich das Schicksal des weisen Mannes gewesen war. Dennoch ergriff Lysia erneut das Wort.
„Der Schatten hat ihn gefunden. Er hat ihn an einem magischen Ort gefunden, von dem man dachte, er sei dort gut genug verborgen. Doch das war er nicht. Lunus fand den Tod.“ Die letzten Worte hatte das Orakel geflüstert und dabei die Augen weit aufgerissen. Jetzt lehnte sie sich langsam in ihrem Thron zurück, schlug die Beine übereinander und wartete darauf, dass einer ihrer Gefährten zu sprechen begann.
Enago tat ihr schließlich diesen Gefallen. „So kommen wir doch nicht weiter.“ Seufzend fuhr er sich mit der flachen Hand durch seine schwarzen Haare. „Einen Wächter zu bestimmen ist durchaus klug und ratsam, dennoch bleibt die Frage, wer wird dieser Wächter sein? Einer von uns wird sich wohl kaum bereiterklären, auf das, was wir in der letzten Zeit erfolgreich bekämpft haben, Tag und Nacht aufzupassen. Und selbst wenn wir eine geeignete Person fänden, wo bliebe dieser Jemand? Ich denke, es ist klar geworden, dass es zu wenige unbekannte und sichere Plätze gibt. Und die Orte, die vermeintlich sicher erscheinen, es schließlich nicht sind.“
Keira verschränkte die Arme vor der Brust. „Also befinden wir uns wieder am Anfang. Wir wissen nicht, was wir mit dem schwarzen Stein anstellen sollen!“
Lia fuhr sich mit einer Hand über den Arm, sie fröstelte leicht. Es war nicht kalt in der Höhle und das blaue Feuer der Fackeln spendete zusätzlich etwas Wärme. Dennoch spürte sie, wie schon so oft in letzter Zeit, eine unangenehme Kälte, die seltsamerweise von ihr selbst ausging. Die Kälte war wie eine große, unheimliche Hand, die sich langsam auf ihre Schulter legte, einen Schatten über sie warf.
Plötzlich stieß Keira einen leisen Schrei aus. Lia und Lysia hoben erschreckt die Köpfe und Enago griff sofort nach seinem Schwert. Doch es war keine Gefahr vorhanden, nichts Ungewöhnliches hatte die Seherin erschreckt. Ein leises Lächeln zierte ihr schönes Gesicht und als ihre Gefährten sie mit verständnisloser Miene anblickten, blitzten ihre wasserblauen Augen erfreut auf.
„Gut gemacht, Enago!“ Ihre Worte schienen der Situation nicht angemessen und steigerten nur die Verständnislosigkeit der anderen.
Enago ließ den Griff seiner Waffe wieder los. „Was habe ich Gutes getan?“, fragte er.
Auch Lysia legte den Kopf fragend auf die Seite und starrte Keira aus großen runden Augen neugierig an. „Das möchte ich auch gerne wissen!“
Das Lächeln im Gesicht der Seherin erstarb nicht. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete noch einen kurzen Augenblick, bis sie sich sicher war, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Gefährten zu besitzen.
„Ich weiß es!“, rief sie schließlich.
„Was weißt du?“ Lia konnte die Neugier in ihrer Stimme nicht verbergen.
„Ich weiß, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren können und wo er sicher sein wird!“
Lia sah, wie Lysia begeistert nach Luft schnappte und auch sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Die plötzliche Idee, der Gedanke der Seherin begeisterte sie und es genügte ein kurzer Blick in ihr strahlendes Gesicht und auch Lia fühlte einen kleinen Funken Hoffnung in sich aufkeimen, dabei kannte sie noch nicht einmal die Hintergründe des Plans.
„Und dabei soll dir Enago geholfen haben?“ Die Todes Tochter beschloss fürs Erste skeptisch zu bleiben. Sie wusste, dass es nicht gut war, überstürzte Entscheidungen zu treffen. Keira stieß ein kurzes Lachen aus.
„Mehr oder weniger. Enago hat mir unbewusst geholfen. Eigentlich hätte ich schon viel früher darauf kommen müssen! Aber erst jetzt ist mir klar geworden, dass sein Vorschlag gar nicht so abwegig war.“
„Welcher Vorschlag?“ Der junge Mann legte die Stirn in Falten.
„Du wolltest den schwarzen Stein in einem See versenken!“, erklärte Keira und starrte Enago dabei mit ihren tiefblauen Augen an. Stille begann sich im Raum auszubreiten, bis Lia plötzlich ein abschätziges Lachen ausstieß.
„Du willst den schwarzen Stein wirklich in einem See versenken? Wir wollten ihn doch nicht loswerden. Zudem ist es zu gefährlich. Wir wissen nicht, wer ihn finden könnte …“
„Nein!“, unterbrach die Seherin sie. „Es wäre gewiss nicht klug, den Stein einfach wegzuwerfen. Ich habe diese Idee natürlich nicht in Erwägung gezogen!“ Mit einem kurzen Blick entschuldigte sie sich bei Enago, der ihr sofort wieder verzieh. Ihre langen blonden Haare wippten bei jeder ihrer Bewegungen fröhlich mit. Irgendetwas erfreute sie.
Lia wartete darauf, dass Keira weitersprechen würde und ihren plötzlichen Einfall weiter erklärte, doch die junge Frau schwieg und starrte sie aus ihren wasserblauen Augen an. Ihre Gefährten starrten zurück. Sie verstanden nicht, worauf die Seherin hinauswollte. Schließlich beendete die Todes Tochter das Schweigen. Sie strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und trat langsam einen Schritt vor.
„Was für einen Vorschlag möchtest du unterbreiten?“ Ihre Frage sollte nicht kühl klingen und schon gar nicht zweifelnd. Doch Lia musste feststellen, dass in ihrer Stimme ein fremder Unterton mitschwang.
Keiras fröhlicher Blick verschwand für einen kurzen Moment hinter einer Maske aus Überraschung und Zorn. Lia hatte mit ihrer Frage unabsichtlich das Wissen der Seherin in Frage gestellt. Es war nicht klug, einer Seherin oder einem Seher jemals zu misstrauen, wenn es darum ging, was sie wussten. Die Menschen, die eine ganz besondere Gabe ihr Eigen nennen konnten, sammelten seit vielen hundert Jahren magisches Wissen und verbargen es vor machthungrigen Geschöpfen. Dieses Wissen wurde dann von Generation zu Generation weitergegeben und jedes Mal war es größer und wertvoller als zuvor. Es gab wohl kaum jemanden auf der Erde, der mehr Wissen besaß als ein Seher.
Sollte Keira durch Lias zweifelnde Frage gekränkt worden sein, so ließ sich die schöne Frau das nicht anmerken. Ihr liebliches Lächeln zierte wieder ihre Lippen und sie sah Lia mit festem Blick in die Augen. „Ich will euch nur sagen, dass ich weiß,