Dem Urteil so vieler Leute über die auffallend fortgeschrittene Reife des jungen Mädchens ist wohl zu trauen. Schwer vorstellbar, dass es im damaligen Deutschland noch einen Duodezhof gegeben habe, wo sich derart viele Persönlichkeiten trafen, nicht nur ungezwungen ein- und ausgingen, sondern manchmal bleibende Quartiere aufschlugen. Herder, Bonnet, Humboldt, Saussure, Schiller natürlich, Jean Paul wenigstens vorübergehend, lebten in oder streiften Weimar und traten also auch in die Welt Augustas, was auf das junge Mädchen nicht ohne Einfluss geblieben ist. Hauptform des Kontaktes jener Zeit war der Brief; er enthielt nicht das Stenogramm bloßer Mitteilung, Briefe waren ausschweifende Darlegungen der Lage des Schreibers, seiner Beziehungen zur Welt. Es war ein Glück, dass der jungen Augusta die Last pietistischer Religiosität oder auch katholischer Dogmatik erspart blieb, obschon sie protestantisch getauft worden war. Evangelische Christin blieb sie zwar ihr Leben lang, aber ihr Christentum war weithin an die historische bis pantheistische Beobachtung ihres großen heimlichen Erziehers gebildet. Rituale reizten die junge Dame bestenfalls optisch. Gewiss erfuhr sie die Süße der griechisch-orthodoxen Liturgie, den schwellenden Singsang der Psalmodisten, die mit den Elementen einer ursprünglichen, den mit einer russisch-dörflichen Heilssuche verbundenen Gottesdienst; sie hörte der schlichten Predigt des Pastors eher religionskritisch bis philologisch interessiert zu, und wahrscheinlich konnte niemand mit Goethe inniger verkehren und dogmatischer Religiosität aufgeschlossen bleiben. Für Augusta mag das Streben des Doktor Johann Faust fast aufklärerischen Bezug gehabt haben. Weihrauch, die goldüberladene Ikone, deren Wirkung sich selbst der religiöse Skeptiker oder Atheist wie einer mystischen Beschwörung nur schwer entziehen kann, haben sie also ebenso wenig berührt, wie die römisch-katholische Liturgie; es gibt kaum eine schriftliche Hinterlassenschaft von Augusta, in der sie sich maßlos übertrieben auf eine fürstliche Gottesgnadenschaft beruft oder sich christlicher Phrasen bedient wie ihr späterer Gatte Wilhelm. Was ihr an der Fürstenherrlichkeit blieb, ihr Hochmut gegenüber niedriger klassierten, ist immerhin ganz und gar von dieser Welt.
Als 1828 oder 1829 der preußische Wilhelm in ihr Leben trat, nach manchem Hin und Her um sie warb, nahm sie die Werbung mit der Gelassenheit einer Philosophin entgegen, als habe sie ihn wegen seines Schrittes zu trösten. Sie dachte über ihn nach, über sein Leben und seine Vorstellungen. Sie hat im Grunde bis in ihre Witwenzeit hinein, den Stil von Weimar gepflegt, hat gemalt und nicht einmal ungeschickt, und wusste sich den Genuss zu verschaffen, der ihr einst in der Jugend aus dem Umgang mit erhabenen Geistern und tiefgründiger Unterhaltung erwachsen war. Dergleichen konnte sie bei Wilhelm nicht bekommen, und die literarischen Salons, die wenigen, die in Berlin noch blühten, waren ihr aus Standesrücksichten verschlossen, aber gerade dort wurden alle die wichtigen öffentlichen Angelegenheiten bei aufgeregtem Gehabe behandelt, die Augusta ihrer Erziehung und Natur nach reizten. Und die Gazetten, die Presse bestimmte den Ton der Gebildeten.
BRAUTWERBUNG
Als Wilhelm in Ihr Leben trat, wusste Augusta, dass sie nur die zweite Wahl sein würde.
Weimar, im Winter 1829
Mama und ich sprachen heute darüber, wie ich mich gegenüber der Tatsache zu verhalten habe, dass W. eine unglückliche Liebe zur R. hat. Diese Elisa weckt mehr Anteilnahme in mir, als es schicklich wäre. Eifersucht kann ich auch bei ernsthafter Prüfung nicht die Spur bei mir entdecken. Mama findet das absonderlich, ich mußte ihr erklären, wie sinnlos es ist, auf eine Frau eifersüchtig zu sein, die mein Bräutigam selbst verstoßen hat; in Bürgerkreisen nennt man es wohl sitzenlassen. Peinlicher berührte mich die Frage Mamas nach meinen eigenen Empfindungen für W., habe mich gehütet, die Wahrheit zu sagen, dass ich ihn als Mann und Menschen zu befragen gedenke. Was in aller Welt erwartet man denn von mir? Mama wurde schließlich ärgerlich. Daß sie W. für beschränkt hält und für unfähig, etwas anderes als Selbstliebe zu empfinden, habe ich ihr ausreden müssen. Später in den Wahlverwandten gelesen, und weiter angeregt bei Stella nachgelesen. Zu meiner eigenen Überraschung hat der Gedanke einer so ungewöhnlichen geistigen, nur geistigen?, Beziehung zwischen drei Menschen für mich überhaupt nichts erschreckendes. Ich versuchte, mir dazu diese Elisa vorzustellen, die lange auf W. gewartet hat und ich betrachtete das Bild dieser Frau. Wäre ich damit einverstanden (und imstand), sie in unsere Ehe einzubeziehen, da ich keinen natürlichen Anspruch auf W. haben kann? Wo alles freier Wille ist, hört konstituiertes Recht auf. Besitzt sie etwas anderes als ich, oder hielt W. nur aus äußeren Rücksichten daran fest, sie zu heiraten?
Man schreibt aus Berlin, dass mein Verlobter eine weitere Beziehung zu einer Frau unterhält, was er vielleicht aus einem Bedürfnis seiner Nerven heraus tut. Unsere Moral ist leider ganz konventionell, gleichwohl müssen wir die Formen unseres Umganges miteinander so ausgestalten, dass jedem sein Recht wird. Wenn das, wie in Stella, auf einer einfachen Erweiterung unseres Anspruchs geschieht, spottet die Natur jeder Frömmigkeit. Vor Mama will ich aber lieber über diese Einfälle schweigen.
In Berlin, oder in Potsdam, wo wir wohnen werden, muß unser Haus allen Menschen freien Geistes geöffnet sein; die großen neuen Ideen dieses Jahrhunderts werden bei uns Heimstatt haben und im freundlichen Umgang ausgetauscht werden. Muß mir eine Liste mit den Namen jener Männer anlegen, die in Berlin wirken und wertvoll sind. Humboldt! Mama besteht peinlicherweise darauf, dass alle unklaren Beziehungen meines Verlobten vor unserer Hochzeit gelöst werden müssen.