Weckruf. Michael Piater. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Piater
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783742799197
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selbst konnte das trotz internationalen Ausstellungen und ziemlichem Reichtum nie wirklich glauben, weshalb er – vielleicht um ein letztes großes Mysterium zu erkunden – sich in der Abenddämmerung kniend und mit weit ausgebreiteten Armen auf irgendwelchen Zuggleisen irgendwo in der Nähe des Ammersees, darauf vorbereitete zu erkunden, was für ihn persönlich die letzte große menschliche Freiheit sein würde…

      Tja, wie gesagt, jeder hat so seine eigene Art, nach seiner eigenen Wahrheit zu suchen…

      An: [email protected]

      Betreff: Reisevorbereitung

      Hallo Carlos,

      ich denke ernsthaft über deinen Vorschlag nach. Denn Eins steht fest: ob mit oder ohne Idee – ich muss hier raus! Tag ein Tag aus, Woche um Woche, Jahr für Jahr… Immer wieder mehr oder weniger das Gleiche, ohne dass wirklich was passiert…

      Wie du ja weißt, mach ich ja manchmal diese kleinen Spezialreisen zuhause. Tja, und wie das manchmal auf diesen Reisen so ist, spielen Zeit und Raum irgendwann mal keine Rolle mehr.

      Man ist ganz weit weg und kommt doch so ganz nah an sich ran. Je weiter weg, desto näher – so scheint es. Und aus dieser Entfernung, mit diesem Abstand vom lächerlich Alltäglichen erscheint so Vieles so klein und bedeutungslos. Fast ein bisschen lustig – oder tragisch. Je nach dem..

      Und immer wenn man dann versucht, ein Reisemitbringsel, eine Erinnerung an die Erkenntnis mitzunehmen, dann heißt es plötzlich von der Reiseleitung: „So, meine Damen und Herren; das war`s für heute! Und bitte denken Sie daran, dass es nicht möglich ist, irgendetwas von hier mitzunehmen. Außerdem weisen wir nachdrücklich darauf hin, dass diese unsere Reiseziele niemals End-, sondern immer nur Ausflugsziele sein können. Wer versucht, hier zu bleiben, zerstört damit unweigerlich diese Orte und gibt seine physische Realität auf. Das heißt, Sie sind dann weder - noch! Weder hier noch da – weder wirklich lebendig noch tot.

      Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Reise und freuen uns auf Ihre nächste Buchung bei „wheat-grass-adventures.!“

      Aber natürlich bleibt, wie nach jeder Reise, auch ohne konkretes Mitbringsel, ein Gefühl von Erinnerung. Eine Erinnerung an ein großes Fernweh oder an eine große Klarheit. Je nach dem…

      So wie die Erinnerung an den kosmischen Tante-Emma-Laden mit seinem vermutlich allwissenden Verkäufer, der freundlich augenzwinkernd vor dir steht und bedauernd feststellt: „Tut mir leid! Hauptfiguren für Ihre Romanidee sind im Moment leider aus. Vielleicht versuchen Sie es morgen oder übermorgen nochmal…“

      Und du fühlst dich wie ein einzelner speckiger Würfel in einem abgegriffenen Lederbecher. Hektisch und angespannt hin- und her geschüttelt in der Hand eines verzweifelten Spielers, für den es um nichts Geringeres geht als um Alles oder Nichts…

      Lieber Carlos, ich denke, ich mache mich bald auf den Weg und halte dich auf dem Laufenden.

      LG M.

      Goldy

      Immer wieder schaufelte er kaltes Wasser ins Gesicht und strich mit den nassen Händen über seine Glatze.

      Irvin D. – das D. steht für David, den er aber lieber immer schon hinter der Abkürzung versteckt hielt, weil ihm das in Verbindung mit Goldmayer denn doch zu viel war. Irvin D. Goldmayer also, blickte tief in seine dunkelbraunen Augen, musterte die fast genauso dunklen Ringe darunter und erinnerte sich, wie er sich vor über vierzig Jahren zum ersten Mal eine ähnliche Frisur verpasste…

      Aus seinem linken Auge rann eine kleine Träne. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Wenn überhaupt, dann konnte er schon immer nur mit dem linken Auge weinen – dem Zielauge des Jägers. Denn noch im selben Moment, in dem er die Beute erlegte, hatte er unfassbares Mitleid mit ihr. Die Jagd an sich war viel größer und erhabener als die fetteste Beute jemals hätte sein können und bedeutete ihm deshalb unendlich viel mehr.

      Er war zwar der Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer und in England aufgewachsen, aber er weigerte sich, seinen schon als Kind enorm entwickelten Geschäftssinn damit in Verbindung zu bringen. Klischees waren ihm zuwider und wo immer es ging, stellte er sie in Frage oder ging dagegen vor. Er war einfach nur neugierig. Er liebte es, mit den Händen und dem Kopf zu arbeiten und rauszufinden, was geht.

      Schon mit acht oder neun Jahren verstand er es, die lädierten, abgenutzten oder kaputten Modellautos seiner Schulkameraden und Nachbarskinder in liebevoller Kleinarbeit nicht nur zu restaurieren, sondern so aufzupeppen, dass sie schnell zu begehrten Sammlerobjekten für Erwachsene wurden, die ein Vielfaches dafür bezahlten.

      Joshua, sein Vater, sah das mit zurückhaltendem Stolz aber auch mit einem gewissen Unbehagen. Er war ein Mann des Geistes und der schönen Künste. Er liebte nicht nur jedes einzelne Buch in seinem liebevoll geführten Antiquariat, sondern widmete zur Enttäuschung seiner Frau Rebecca, seinem Ältesten, Samuel und dem Nesthäkchen David, seinen Kunden mehr und intensivere Zeit. Die allermeisten Bücher hatte er tatsächlich gelesen, aber sein Wissen umfasste noch deutlich mehr.

      Dabei war er wirklich ein einfacher Mensch, dessen Glaube an die Schriften der Thora unerschütterlich und ein Leben ohne Gott unvorstellbar war.

      „Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt.“ – das war einer seiner Lieblingssprüche Salomos.

      Klein David floh nicht wirklich vor dem Religionsunterricht, aber er war einfach zu sehr mit dem Aufbau seines kleinen Modellauto-Imperiums beschäftigt. Außerdem war es für ihn, der in England geboren und aufgewachsen war nicht nachvollziehbar warum er versuchen sollte etwas anderes als Engländer zu sein. Er fühlte sich nicht wohl in den abgetragenen Anzügen seines großen Bruders und ständig eine Kopfbedeckung tragen zu müssen, war für ihn so etwas wie eine Einschränkung des selbständigen Denkens. Von den Predigten des Rabbiners fühlte er sich bedroht und von der Gemeinschaft eingesperrt.

      Und dann kam der verhängnisvolle Tag seiner Bar Mitzwa, der ihn zu einem „Sohn der Pflicht“ machen sollte…

      Ein bedeutungsvoller Tag, der für Jungen nach dem ersten Sabbat nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres stattfand und dessen weiteres Leben für immer festlegen würde. Der Tag, nach dem er für die Erhaltung und Beachtung der jüdischen Gebote verantwortlich sein sollte!

      Muss, muss, muss! Er aber wollte rausfinden, was geht – nicht, was muss

      Die Synagoge füllte sich mit feierlich gekleideten Gemeindemitgliedern. Bedächtiges Gemurmel surrte durch die Halle und langsam fing die religiöse Zeremonie an ihren überlieferten Ritualen zu folgen.

      „Mutter…!“ – Mama ging ihm einfach nicht über die Lippen,

      „Mutter“, flüsterte er, „ich muss ganz dringend nochmal aufs Klo!“

      „Gut, aber mach schnell! Es geht gleich los!“

      Und auch damals sah er im Toilettenspiegel in seine dunklen, entschlossenen Augen, sah dieses Blitzen – vor allem im Linken, nahm seine Kippa ab, holte langsam und mit zitternder Hand die Schere aus seiner Jackentasche, schnitt sich zuerst die linke dann die rechte Schläfenlocke ab und dann - den Rest so gut er konnte… Erhobenen Hauptes, ohne Kippa und mit einem Schädel, der aussah als wäre er von Ratten angefressen worden, erschien er vor der versammelten Gemeinde

      An: [email protected]

      Betreff: Auf dem Weg

      Hallo Carlos,

      ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, das war eine scheiß Idee!

      Es gibt Entscheidungen, von denen man gar nicht so genau weiß, ob man sie wirklich selbst getroffen hat. Aber auf jeden Fall sind sie nicht mehr rückgängig zu machen.

      Ich bin heute in Zabaldika angekommen. Also nur noch schlappe 734 km bis Santiago… Ich werde zum ersten Mal in einer kirchlichen Herberge übernachten: 18 Schlafplätze in 3