Nachdem der Kleine getrunken hatte, setzte Ngawe ihren Sohn wieder in den Korb mit den Stoffresten, den der Herr ihr geschenkt hatte. Das Kind gab einige zufriedene Laute von sich, krabbelte wieder aus dem Körbchen und begann still mit einigen alten Weberschiffchen zu spielen, die in der Ecke herumlagen.
Das gefiel Ngawe. Es war gut, wenn ihr Kind nicht schlief, wenn Llauk schlief. So konnte Ngawe versuchen, Llauk Träume zu machen.
Ngawe hielt Llauk zwar für viel zu unsensibel, aber schaden konnte es ja nichts, wenn sie in der Werkstatt leise das Lied des Hochmuts sang - und danach das Lied der Schwäche. Sie bedauerte es sehr, dass sie schon so früh von den Scharleuten am Hafen ihrer Heimatstadt eingefangen worden war. Sie kannte noch nicht alle Texte der Kraan-Lieder. Gern hätte sie Llauk sonst das Lied der Angst gesungen, oder das des Sterbens.
Leise, einer nach dem anderen, hatten die Weber ihre Arbeit wieder aufgenommen. Durch die dünne Bretterwand drang das gleichmäßige Klappern der Webstühle.
Llauk hörte nichts davon. In tiefen Schlaf gesunken lag er auf den Stoffballen, von denen er nicht einen einzigen selbst gefertigt hatte, und schlief. Er hörte nicht die ständigen Arbeitsgeräusche der Sklaven, die für seinen Vater arbeiteten. Llauk schlief tief und traumlos.
Ab und zu waren einige leise gemurmelte Sätze aus der Werkstatt zu hören. Llauk bekam nicht mit, dass die Sklaven sich ein wenig bei der Arbeit unterhielten, `schwatzten', wie er es genannt hätte. Llauk schlief.
Über den vereinzelten Worten der Sklaven erhob sich ganz allmählich, ganz sacht, eine dunkle Stimme, die eine fremdländisch anmutende Melodie summte. Die Gespräche der Arbeiter verstummten, und bald füllte die leise Stimme den Werkstattraum völlig aus.
Hinter der Bretterwand, in Llauks Versteck, konnte man die Worte, die Ngawe sang eher erahnen als verstehen, zudem sang sie in ihrer Heimatsprache. Sie sang von einem König, einem sehr überheblichen König. Llauk bewegte sich im Schlaf. Der schlafende Mensch öffnet Pforten seines Geistes, von denen derselbe Mensch in wachem Zustand gar nichts weiß.
Sanft, unmerklich schlich sich der Zauber der Kraan an Llauk heran, drang in sein Ohr - und machte ihm Träume.
Llauk fand sich in einem Thronsaal wieder. Dass es ein Thronsaal war, wußte Llauk, auch wenn der Raum bis unter die Decke mit Stoffballen vollgestopft war. In der Mitte des riesigen Raumes standen Dutzende, nein Hunderte von Webstühlen, an denen nackte Menschen arbeiteten.
Llauk, der König der Stoffmacher, schritt stolz durch die Reihen. Leiser, fremdartiger Gesang wehte von irgendwoher durch den Raum. Angenehm klangen die Laute in Llauks Ohr, wenn er auch die Worte nicht verstand. - Eine Lobpreisung!
Jetzt fingen auch die Sklaven an den Webstühlen leise an mitzusingen. Llauk meinte seinen Namen herauszuhören. Ja, die Sklaven liebten ihren strengen Herrn. Sie liebten ihn so sehr, dass sie ihm zu Ehren eine Hymne sangen.
Weiter und weiter schritt Llauk durch die Reihen. - Doch was war das? - Leere Webstühle! Ganze Reihen leerer Webstühle! "Mehr Sklaven!", forderte Llauk.
Plötzlich belebten sich die Bänke mit Getier aller Art, das fleißig und folgsam für Llauk zu arbeiten begann. Zufrieden ging Llauk weiter, doch schon nach ein paar Schritten stand er wieder vor leeren Bänken.
"Mehr Sklaven!", forderte Llauk, und nun begannen die Bäume des Waldes für ihn zu weben.
So ging es immer weiter, aber Llauk war nicht zufriedenzustellen. Immer mehr Sklaven forderte er, bis er am Ende die Flüsse und Berge, den Himmel und das Land und sogar die Sonne und den Mond unter seine Fron genommen hatte.
Süß und einschmeichelnd klangen die fremden Worte der Hymne. Sie forderten ihn auf, das Letzte zu wagen. - Und Llauk zögerte nicht. Die letzte Reihe leerer Webstühle mußte besetzt werden. Llauk war der König! Alle sollten für ihn arbeiten - sogar die Götter.
"Mehr Sklaven!" Llauk war glücklich. Mehr konnte ein Mensch nicht fordern. "Mehr Sklaven! Mehr Sklaven!"
Aber die Götter erschienen nicht. Llauk wurde ungehalten. Auch die Musik der Hymne klang nicht mehr so süß in seinen Ohren. Etwas Zögerndes, Widerstrebendes ging davon aus. Llauk bekam Angst. Vielleicht war es doch zu vermessen gewesen, die Götter selbst in die Knechtschaft zwingen zu wollen?
"Genug!", rief Llauk und drehte sich von den leeren Webstühlen weg. Was er sah, ließ seinen Schritt stocken.
Keiner seiner Sklaven arbeitete mehr. Alle hatten ihre Webstühle verlassen und warteten auf ihn. Haßerfüllte Augen starrten ihn an, aus tausenden von Kehlen ertönte die Hymne, jetzt verzerrt zu einem ewigen Schrei des Hasses und der Verachtung.
"Genug!" Llauk wollte keine weiteren Sklaven mehr, auch keine Macht. Llauk wollte nur noch fort von diesem unheimlichen Ort, wo die Sklaven dem König der Stoffmacher trotzten.
"Fort!" Aber die Sklaven gingen nicht fort. Als hätten sie nur auf seine Worte gewartet, stürzten sie sich auf Llauk und schleppten ihn in ihrer Mitte zu einem der Webstühle.
Plötzlich sah Llauk schwere Metallreifen an seinen Armen und Beinen. Die Sklaven hatten ihn an den Webstuhl gekettet.
Llauk mußte weben. Im Rhythmus der verhaßten Melodie, deren unverständliche Worte ihn demütigten und schmähten, ließ er das Schiffchen durch die Fäden sirren. Doch so schnell er auch arbeitete, es war den Sklaven, die ihn umstanden, nicht schnell genug. Sie begannen, nach ihm zu schlagen, ihm die Kleider vom Leibe zu ziehen.
Nackt und gedemütigt arbeitete Llauk unter den Schlägen der Sklaven, so schnell er konnte. Tränen liefen über seine Wangen und ein stummer Schrei drohte ihn zu ersticken. Immer schneller, immer heftiger prasselten die Schläge auf ihn nieder, bis es ganz dunkel um ihn wurde. Llauk holte tief Luft und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
"Was war das?"
Schlagartig hatten alle Sklaven in der Werkstatt zu arbeiten aufgehört, als der gellende Schrei, gefolgt von einem dumpfen Poltern, aus dem Verschlag drang; nur Ngawe webte gleichmütig an ihrer Stoffbahn weiter. "Nur ein dummes Tier", beruhigte sie die anderen Arbeiter." Ein böses kleines Tier. Es ist geflüchtet."
Widerstrebend gingen die anderen Sklaven wieder an ihre Arbeit. Manch einer warf der Bretterwand zu dem Verschlag noch einen mißtrauischen oder ängstlichen Blick zu. Selbstverständlich wußten alle Sklaven von Llauks geheimem Astloch, und alle hatten Llauks Stimme erkannt. Wie er geschrien hatte: - So, als werde ihm das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen.
Um das Astloch brauchten sich die Sklaven nie wieder Sorgen zu machen. Llauk war aus dem Verschlag geflüchtet und zwar für immer. Es graute ihm so sehr vor diesem Raum, in dem er aus dem schlimmsten Traum seines Lebens aufgewacht war, dass er ihn sogar am hellichten Tage mied wann immer er konnte.
Spät am Abend setzte sich Tos eb Far, der Dramile noch ein wenig zu Ngawe, der Kraan-Frau und ihrem gemeinsamen Kind. "Hast du den Burschen verscheucht?", fragte er nach einiger Zeit seine Frau, die bestätigend nickte.
"Mit deinem Lied?" Es war Tos nicht entgangen, dass Ngawes Gesang kurz vor Llauks Schrei härter geworden war, fordernder, nahezu haßerfüllt.
Wieder nickte Ngawe nur stumm, aber Tos ließ nicht nach. "Was hast du da gesungen?", wollte er von Ngawe wissen.
"Ein altes Lied der Kraan", antwortete die Frau leise. „Es geht darin um einen hochmütigen König, der immer mehr Krieger unter seinen Zwang nimmt, bis selbst Sonne und Mond ihm gehorchen."
"Aber das war doch nicht alles."
"Nein", bestätigte Ngawe. "Der zweite Teil des Liedes erzählt von demselben König, wie er von seinen eigenen Kriegern gefangengesetzt und gedemütigt wird."
"Was hat ihn so daran erschreckt? Er konnte doch die Worte nicht verstehen." Tos begriff das alles nicht und machte auch keinen Hehl daraus.
"Lieder sind wie Sklaven." Ngawe blickte zu Boden und sprach