Liebe Agathe, ich kenne Deinen Stolz und weiß, wie sehr es den trifft. Vor allem wird sich die Presse genüsslich auf die Berichterstattung stürzen. Verzeih mir, wenn Du kannst. Du warst immer eine untadelige Ehefrau. Aber ich bin wohl zur ehelichen Treue nicht fähig, und nun büße ich dafür mit dem Tod. Noch etwas liegt mir schwer auf der Seele: Ich lasse Dich und die Kinder in katastrophalen finanziellen Verhältnissen zurück. Ich habe Dir nichts davon gesagt, weil ich immer noch auf Rettung gehofft habe. Nun ist es zu spät. Ich hatte Aktien gekauft — der Börsenkrach vorletzten Herbst hat sie fast völlig entwertet. Dann kam eines zum anderen. Am Spieltisch, an dem ich sonst so manches Glück gemacht hatte, versuchte ich Land zu gewinnen — es riss mich noch tiefer hinein. Kurz: Ich stecke tief in der Kreide. Auch bei meinem Bruder habe ich Verpflichtungen, die ich nicht einlösen kann, und er besitzt selber nicht mehr viel. Du wirst die Wohnung aufgeben müssen und Deine Preziosen und den meisten Hausrat verkaufen, nur um die Schulden zu begleichen. Ich hinterlasse Dir und unseren Kindern nichts als einen Namen, dessen Ehre mit Blut wieder reingewaschen ist. Verzeih mir, Agathe. Du hättest ein besseres Schicksal verdient.
Woldemar
Das Entsetzen schnürte Sophie die Kehle zu. Da half kein Sträuben mehr und kein Abwehren: Der Vater war es selbst gewesen, der seinen Tod verschuldet hatte. Der Vater, nicht die Mutter. Und nicht nur an seinem eigenen Tod war er schuld, sondern auch an dem dieser Elisabeth. Ein fünfzehnjähriges Mädchen — drei Jahre jünger als sie selbst!
Ein trockenes Schluchzen brach aus ihrer Brust. „Mama!“, stöhnte sie und sprang auf, krachend fiel der kostbare Stuhl um, sie achtete nicht darauf, rannte zur Tür, riss sie auf. Frieda, neben dem Bett der Mutter im Korbsessel sitzend, fuhr zu ihr herum und hob zu einer Frage an. „Geh, Frieda, geh in die Küche, lass mich mit meiner Mutter allein!“, würgte Sophie hervor. Mit einem bestürzten Blick verließ das Dienstmädchen das Zimmer.
Sophie fiel neben dem Bett der Mutter auf die Knie, die Mutter lag da mit weißem, abgezehrtem Gesicht und dunkel umschatteten geschlossenen Augen, ihr Atem ging stöhnend und schwer, bei jedem Atemzug flatterten die Nasenflügel. Dies Antlitz, war es überhaupt noch von dieser Welt?
Sophie ergriff die heiße Hand der Mutter und drückte ihr Gesicht hinein. „Mama“, flüsterte sie, „Mama, du darfst nicht sterben! Bitte, stirb nicht, Mama! Es tut mir leid, was ich gedacht habe, es tut mir leid, was geschehen ist. Mama, was hast du mitgemacht und hast geschwiegen, hast alles alleine getragen, das Herz muss es dir gebrochen haben, aber du hast es nicht gezeigt, hast mir das reine Andenken an den Vater erhalten wollen, nie ein Wort gegen ihn, nie ein Wort von seiner Schuld, so unvorstellbar, was er getan hat, und du, hast mich erzogen, als wäre nichts, hast fast deinen ganzen Besitz verkauft, so tapfer, Mama ...“ Sie küsste den Handrücken, alle Ermahnungen des Arztes in den Wind schlagend, wiederholte immer wieder nur dies eine Wort: „Mama“.
Da auf einmal fühlte sie eine Hand auf ihrem Haar, eine heiße, leichte Hand. Sophie blieb ganz still und spürte dieser Berührung nach, konnte es kaum glauben und wusste doch: Es war die Mutter. Endlich hob sie den Kopf, sah der Mutter ins Gesicht und begegnete deren Blick.
Als wenig später Doktor Schneider kam, erklärte er die Krisis für überstanden und sprach von einem Wunder.
Jede Regung ihrer Mutter beobachtete sie, jedes Stöhnen, jedes Husten, jedes Röcheln. Löffelweise Tee und Hustensaft einflößen, die Stirn kühlen, die Wickel erneuern. Seit Stunden saß Sophie schon wieder am Krankenbett. Sie merkte es kaum. Zeit spielte keine Rolle mehr. Auch die ganze Welt schien versunken, als gäbe es keine Welt mehr außerhalb dieses engen Kreises. Die Gedanken über den Vater, die Pflege der Mutter, sonst nichts.
Dieses Gesicht — wie hager es geworden war. Schmal war es schon immer gewesen, aber nun schien es wie eingetrocknet. Kondensiert. Die Müdigkeit eines ganzen Lebens sah man darin, all diese Anstrengung, den Schein aufrechterhalten zu müssen. Die Mühsal, trotz aller Armut ein standesgemäßes Leben zu führen, den Normen Genüge zu tun. Die Erschöpfung durch das ewige Sticken. Die Bitterkeit über die miserable Bezahlung. Die Notwendigkeit, den beschwerlichen Broterwerb vor den Augen der Gesellschaft auch noch verbergen zu müssen. Und den unbeugsamen Stolz, aus dem die Kraft floss, dies alles zu tun, Tag für Tag. Des Namens wegen. Der Ehre wegen. Der Kinder wegen. Damit die Kinder einmal wieder den Platz einnehmen könnten, den ihr Vater verspielt hatte.
Sophie schluckte. Warum hatte sie das nie gesehen?
Und zu all dem noch die Zerreißprobe, vom Gatten tief gekränkt worden zu sein, womöglich über ihn entsetzt zu sein und ihn zu verachten, und dennoch sein Ansehen hochzuhalten — es zugleich beschädigt zu wissen und diese Beschädigung vergessen zu machen und vor den eigenen Kindern zu verbergen. Was musste die Mutter gelitten haben all die Jahre! Und hatte es niemals gezeigt, nicht ein einziges Mal. Ob die Mutter den Vater noch immer liebte, trotz allem? Ob sie ihn hasste? Oder ob er ihr längst gleichgültig war?
Sie, die Tochter, die praktisch jede Stunde des Tages und der Nacht in der Gegenwart der Mutter verbrachte, sie hatte nicht die geringste Ahnung davon. Eine Agathe von Zietowitz zeigte ihre Gefühle nicht.
Vorsichtig öffnete Sophie die oberen Knöpfe am Nachthemd der Mutter, schob den Wickel etwas zur Seite, sorgfältig darauf bedacht, den Busen der Mutter weder zu entblößen noch zu berühren, strich etwas von der durch Doktor Schneider verordneten Salbe auf die Brust, schloss das Hemd wieder, zog die Zudecke hoch bis unter das Kinn.
Die Mutter öffnete kurz die Augen. Fiebrig glänzten sie, aber sie nahmen die Welt wieder wahr. Einen Atemzug lang kreuzten sich ihre Blicke. Dann schlossen sich die Lider wieder.
Sacht legte Sophie ihre Hand auf die der Mutter. Ihr schien, ihre Hand war willkommen. So viel Nähe hatte Sophie bisher weder gekannt noch gewünscht. Und sie wusste, dass sie auch jetzt nur ein Teil des Ausnahmezustandes war, in dem sich die Mutter befand und sie mit ihr. Wenn die Welt ringsum wieder zu existieren beginnen würde, dann würde kein Gedanke mehr daran sein, die Hand der Mutter zu halten.
Ob die Mutter am Morgen der Krisis verstanden hatte, was sie ihr gesagt hatte? Ob die Mutter begriffen hatte, dass sie in den alten Papieren gelesen hatte und nun über den Tod des Vaters und den Grund ihrer Armut Bescheid wusste?
Kein Wort hatte die Mutter bisher darüber verloren. Sie würde es wahrscheinlich nie tun. Alles, was an jenem Morgen geschehen war, würde dem Schweigen anheimfallen, diesem allgegenwärtigen Schweigen, das nicht nur in dem Ausbleiben einer Antwort bestand, nein, viel mehr noch in der Unmöglichkeit einer Frage. Und doch hatte es diesen Augenblick gegeben und spürte Sophie noch immer die heiße Hand ihrer Mutter auf ihrem Scheitel.
Die Mutter wurde unruhig. Sie stöhnte leise, kein stöhnendes Atmen, sondern ein Stöhnen aus schwerem Herzen. Die Augen rollten unter den geschlossenen Lidern hin und her. Das sind die Fieberträume, hatte Doktor Schneider erklärt, als sie ihn darauf angesprochen hatte, kein Grund zur Sorge, ganz im Gegenteil, alles nehme