Rußatem. Hubert Wiest. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hubert Wiest
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783742798442
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Lilienpark die vorgeschriebenen 24 Grad betrug, zitterte ich am ganzen Körper, als hätte ich Schüttelfrost. Im Theaterunterricht hatte ich alles gegeben. Sie mussten mich einfach an der Theaterakademie aufnehmen! Frau Alenkowa, meine Theaterlehrerin, hatte früher einmal gesagt, als sie noch an der Schule unterrichtete: „Wenn du keinen Platz an der Theaterakademie bekommst, Kalana, dann weiß ich auch nicht, wen sie nehmen.“ Immer wieder sagte ich mir diesen Satz vor und versuchte, dabei jedes Mal ein anderes Gesicht zu machen: Lustig, traurig, beleidigt, wütend, glücklich.

      Quinn knuffte mich in die Seite. „Was machst du für komische Grimassen, Kalana? Wir haben es bestimmt geschafft.“

      Okay, heute war ich vielleicht nicht so gut. Das Zittern und meine klatschnassen Hände – ich hatte mich einfach nicht unter Kontrolle.

      „Psst“, zischte Eno.

      Mit dem Gongschlag erhoben sich alle. Ein kurzes Rascheln der Abendkleider, in die sie uns Mädchen gesteckt hatten. Die Anzüge der Jungs machten keine komischen Geräusche und ihre Lederschuhe drückten sich lautlos ins Gras.

      Unsere Direktorin stand oben auf der Bühne ganz still und wartete, bis der Mann vom Ministerium ans Mikrofon trat. Er trug einen hellgrauen Anzug mit den silbernen Streifen des Ministeriums. Selbst die silbergrauen Haare sahen nach Ministerium aus. Seine Zähne blitzten im Scheinwerferlicht. Er nahm einen tiefen Atemzug: „Herrlich diese Luft. Was für ein wunderbarer Abend, um euch den Weg in die Erwachsenenwelt zu weisen. Ihr erhaltet heute eure Zuweisung. Ich bin Counselor Killari.“

      Wir sahen alle ehrfürchtig zu ihm hinauf.

      „Ihr kennt die Zeit, als es noch keine schützende Kuppel über Jaikong gab, nur aus dem Geschichtsunterricht. Ich selbst habe die schmutzige Zeit noch als Kind erlebt. Die Lebenserwartung in Jaikong ging aufgrund der Luftverschmutzung von Jahr zu Jahr zurück, bis endlich die Kuppel gebaut wurde. Die Kuppel ist der größte Segen für die Bewohner Jaikongs.“

      „Mann, der soll aufhören zu quatschen. Ich will endlich meine Zuweisung zu den Aeronauten“, zischte Quinn.

      „Psst“, fauchte Eno.

      Ich konnte es nicht erwarten, meine Zuweisung zu bekommen – und trotzdem hätte ich den Augenblick am liebsten in die Zukunft verschoben. Er würde die Weichen meines Lebens mit einer gnadenlosen Endgültigkeit stellen und die Zeit meiner Kindheit unumkehrbar beenden.

      „Die große Kuppel ermöglicht den Bewohnern Jaikongs ein Leben im Einklang mit der Natur, ohne auf den technischen Fortschritt zu verzichten.“

      Der Mann vom Ministerium atmete noch einmal ganz tief ein. Dann begann er, den Bühnenrand abzuschreiten und versuchte ein charmantes Lächeln.

      Dafür hätte er im Schauspielunterricht bei Frau Alenkowa höchstens eine Vier bekommen.

      „Leider fordern die Pumpen und Filteranlagen der großen Kuppel einen gigantischen Energieaufwand. Es ist unmöglich, mehr als 50 Millionen Menschen unter der Kuppel mit Frischluft zu versorgen. Deshalb müssen manche Mitglieder der Gesellschaft ihren Dienst draußen in einem der fünf Industrie-Ringe verrichten.“

      Counselor Killari seufzte, als würde ihm das leidtun. Das war schon wieder so eine Vier minus.

      „Heute bekommt ihr eure Zuweisung. Ihr hattet es selbst in der Hand, durch Leistung in der Schule euren Platz in der Gesellschaft zu finden. Jeder Einzelne hatte die gleichen Chancen.“

      „Der soll uns endlich unsere Zuweisung sagen.“ Quinn zappelte hin und her.

      Ich war auch total nervös und drückte meine Beine an die Stuhlkante hinter mir. Das gab mir ein wenig Halt. Aber das bescheuerte Ballkleid nahm mir schier die Luft zum Atmen.

      Und wenn sie mich doch nach draußen in einen der Industrie-Ringe schickten? Der erste Industrie-Ring, das ging vielleicht noch. Die Lebenserwartung betrug dort immerhin noch fünfzig Jahre. Fünfzig, das war schon ziemlich alt. Aber mit jedem Ring weiter draußen nahm die durchschnittliche Lebenserwartung um fünf Jahre ab. Im fünften Industrie-Ring wurden die Menschen kaum älter als dreißig. In der Schule hatten wir das immer wieder lernen müssen. Die Luft in den Industrie-Ringen war so schlecht, dass man ohne Filtermaske nicht nach draußen gehen konnte. Und trotzdem atmeten die Menschen dort viel zu viel Dreck ein. Verbrechen wegen Sauerstoffkartuschen waren an der Tagesordnung. Ständig musste man mit dem Aerometer die persönliche Belastung kontrollieren. Dort draußen gab es keinen zartgrauen Himmel, so wie wir ihn aus Jaikong kannten. An einem wunderschönen Frühlingstag hatte ich hier in Jaikong sogar einmal den Stand der Sonne am grauen Himmel erkannt. Die Sonne selbst konnte man nicht sehen. Das war unmöglich. Ich wusste es aus der Schule. Aber an jenem Frühlingstag war der graue Himmel an einer runden Stelle ein wenig heller.

      „Ehe wir zu den Abschlussnoten und eurer Zuweisung kommen, habe ich noch eine Überraschung für euch“, sagte Counselor Killari. „Ich bitte um Ruhe.“

      Jeder noch so kleine Laut verstummte im Lilienpark, als hielten alle die Luft an. Für uns kam es heute Abend darauf an. Ich bin sicher, dass die Eltern der anderen genauso mitfieberten. Meine Eltern lebten nicht mehr. Sie waren vor zehn Jahren bei einem Anschlag der Phunks-Terroristen ums Leben gekommen.

      Counselor Killari räusperte sich.

      Quinn zappelte von einem Fuß auf den anderen. Eno knetete die Finger. Dabei hatte er wirklich keinen Grund zur Sorge.

      „Eure Schule hat das beste Ergebnis von ganz Jaikong erzielt. Deshalb wird die Präsidentin persönlich einige Worte an euch richten“, verkündete Counselor Killari.

      Ich hielt die Luft an. Die beste Schule in Jaikong! Das war absoluter Wahnsinn. Ein Ruck ging durch die Menge, als die Nationalfanfare erklang und die Präsidentin überlebensgroß auf dem Bildschirm erschien. Freundlich lächelte Präsidentin Paal auf uns herab. Ihre Haare waren hinten locker zusammengebunden. Wie immer hatte sie ihre Augenbrauen in der Mitte ein wenig hochgezogen. Das gab ihr ein nachdenkliches Aussehen. Die Bewohner Jaikongs mochten Präsidentin Paal. Nicht umsonst war sie auch in ihrer dritten Amtszeit mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

      „Einen wunderschönen guten Abend, liebe Absolventinnen und liebe Absolventen. Guten Abend liebe Eltern, Verwandte und Freunde. Und nicht zuletzt einen herzlichen Gruß an die unermüdliche Schulleitung.“

      Die Präsidentin lächelte. Sie wirkte fast mädchenhaft, als sie sich mit der Hand über die Haare fuhr. Mit einem Kopfnicken deutete Präsidentin Paal eine Verbeugung an. „Eure Schule hat den besten Abschluss von ganz Jaikong erzielt. Das ist eine unglaubliche Leistung. Mein herzliches Kompliment.“

      Ich war total stolz auf mich und freute mich für die anderen.

      „Fast alle von euch erhalten eine Zuweisung nach Jaikong.“ Unsere Direktorin strahlte, als wäre es ihr Verdienst. Ein erleichtertes Murmeln ging durch die Menge.

      „Ihr seid die Zukunft Jaikongs“, fuhr Präsidentin Paal mit sanfter Stimme fort. „Ihr habt gezeigt, dass der zukünftige Platz in der Gesellschaft nicht von der Herkunft abhängig ist. Egal, ob eure Eltern arm oder reich sind, gute Beziehungen haben oder in den Industrie-Ringen ihren Dienst für die Gesellschaft ableisten, fast alle von euch haben es geschafft. Beruhigt kann ich die Zukunft Jaikongs in eure Hände legen. Mit euch wird der Wohlstand in Jaikong weiter gedeihen! Viele von euch werden ihren Traumberuf ergreifen können. Und den wenigen, die in ein paar Minuten eine andere Zuweisung erhalten, wünsche ich, dass sie das Beste aus ihrer Zukunft machen. Auch sie erhalten die Möglichkeit, wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu werden.“

      Ich zitterte vor Aufregung und stellte mir meinen ersten Tag an der Theaterakademie vor. Nein, eigentlich träumte ich längst von meinem ersten großen Auftritt, um genau zu sein: vom überbordenden Applaus nach der Premiere.

      „Counselor Killari wird euch nun die Zuweisung mitteilen. Alles Gute für euer weiteres Leben.“

      Präsidentin Paal lächelte gütig. Unter dem erneuten Klang der Nationalfanfare verblasste ihre Projektion und verschwand schließlich ganz.

      Counselor Killari trat nach vorne. Sein Mund