»Das möchte ich keinem geraten haben«, erwiderte er gleichmütig. »Also ich mach mir ein schönes Leben? Jeder Sack Kohlen wiegt einen Zentner, probier es mal, vierzig an einem Tag auf dem Buckel herumzuschleppen, mein Herz. Manchmal denke ich, daß die Leute Kohle geradezu fressen.«
»Ach, nein, doch nicht so, das habe ich nicht gemeint, du hast natürlich deine Arbeit«, sagte sie kleinlaut. Sie entzog ihm den Arm. »Seit meine arme Schwester tot ist, hast du dir übrigens einen Ton mir gegenüber angewöhnt!« Dann, wie um zu beweisen, daß sie mit beiden Beinen auf der Erde stand: »Was heißt herumschleppen? Ihr schüttet den Leuten die Kohlen ja doch bloß vor die Tür, für teures Geld.«
Sie hatten eine Kreuzung erreicht. Obwohl die Stadt nicht groß war, sperrte eine Ampel den Verkehr bald in die eine, bald in die andere Richtung, zum Zeichen, daß es voranging. Unsicher setzte Hanna mehrmals den Fuß vom Gehsteig auf den Damm, wagte es aber nicht, weiterzugehen. Dann wurde grün geschaltet und Morak sagte: »Jetzt kannst du, es ist frei.«
»Dieses Trampel kommt nicht einmal ohne dich über den Damm«, grollte die Frau an seiner Seite empört.
Erst als sie alle drei den Damm überquert hatten und auf der sicheren anderen Seite standen, gab er eine kurze Antwort. »Na, Trampel! Hanna sieht keine Farben, und ich habe sie nun mal. Deine Schwester hat sie geholt. Soll ich sie jetzt wie Katze ersäufen?«
Da er sich endlich zu stellen schien, lebte seine Schwägerin auf.
»Wer redet davon? Du kennst immer nur heiß oder kalt.
Ich meine es ehrlich mit dir; du bist nicht dumm, Ingenieur immerhin, das ist doch was, du siehst noch ganz gut aus «, log sie, und weil er abwehrte, »lass mich ausreden! Die ist nicht bloß farbenblind! Hättest du Hanna nicht wieder dahin zurückbringen können, von wo sie herkam? In diesem Heim war sie gut aufgehoben, nicht?«
»Deine Schwester hat das so gewollt, Isolde«, sagte er trocken, »und so muss es erst mal bleiben.«
Sie errötete. »Ja, ich ahne so etwas. Obwohl ich einer Toten nichts Schlechtes nachsagen will, schon gar nicht meiner Schwester, muss ich leider feststellen, daß sie sich oft genug wie ein Kind aufführen konnte, eigensinnig, ein bisschen überkandidelt und, wie soll ich sagen, wehleidig. Vielleicht hättet ihr Kinder haben sollen, Felix. Natürlich hängt sich solch ein Ding an Menschen, die es gut mit ihr meinen, aber in einem Pflegeheim wäre sie jedenfalls besser aufgehoben, hätte fachliche Betreuung. Das ist wenigstens meine feste Meinung.«
Sie seufzte. »Aber du hast sicher ein gutes Stück Geld für das Haus herausgeschlagen, was?«
»Damit du endlich Ruhe gibst«, sagte er verärgert, »ich habe gar nichts herausgeschlagen, konnte ich auch nicht. Maria und ich haben in Gütertrennung gelebt, und heute gehört das Haus Hanna. Deine Schwester hat ihr alles hinterlassen, ich bin nur der Vormund. Wenn das Haus verkauft ist, kommt alles Geld zu ihren Gunsten auf ein Sperrkonto, viel mehr, es wird überwiesen, sobald der Verkauf genehmigt und rechtskräftig ist, falls es überhaupt dazu kommt. Da ihr beide Schwestern keine gesetzlichen Erben seid, wird es wohl so kommen! Das ist die ganze Geschichte, und der Notar wird dir das nachher alles erklären!«
Nach einer Weile sagte sie verdrossen: »Wie denn? Es gibt ein Testament, das uns alle enterbt?« Und als er nickte: »Und du kennst es? Das sieht ihr ähnlich. Das sieht meiner Schwester ähnlich, diese Hinterhältigkeit kenne ich noch aus unseren Kindertagen, dann wieder konnte sie lieb und selbstlos sein. Jetzt hat sie uns also doch noch einen letzten Tritt versetzt!«
Daß die beiden, Schwager und Schwester in keiner Gütergemeinschaft gelebt hatten, war ihr nicht nur unbekannt, sie fühlte sich auch hintergangen, wäre zu Lebzeiten ihrer Schwester allerdings nicht auf den Gedanken gekommen, der Mann dieser Schwester habe nicht das gleiche Recht an ihrem gemeinsamen ehelichen Besitz besessen. Es war durchaus nicht üblich; und die beiden hatten nach außen hin einträchtig gelebt. Nach Gründen suchend, weshalb die beiden ihr Habe getrennt hatten, fiel ihr ein, daß es im Leben ihres Schwagers eine dunkle Stelle gab, er war vorbestraft, hatte also gesessen, und zwar wegen eines Totschlages, wie gemunkelt wurde. Jedenfalls war aus der Verstorbenen damals nichts darüber herauszubringen gewesen, und die Neugier hielt sich unter den Geschwistern in Grenzen, bis alles in Vergessenheit geraten war. Nach einiger Zeit war der Zuchthäusler auch wieder aufgetaucht, und hatte ein Fuhrgeschäft eröffnet. Mit den Jahren hatte sich alles verwachsen.
Jetzt aber schien es ihr nötig, sich nach seinem Verbrechen zu erkundigen. Die Schwester hatte wie gesagt jedes Gespräch darüber abgebrochen. Daß Schwager Felix eine Untat, einen Mord begangen haben könnte, rückte in den Erwägungen wieder näher. Daß er zur Gewalttätigkeit neigte, wusste sie. Auf ihre vorsichtige Frage, wann sie denn diese Gütertrennung verabredet hatten, gab Morak bereitwillig Antwort: »Kurz danach.«
»So? Kurz nach, also nach deiner Entlassung aus dem Knast?«
Das passte nun wiederum nicht zu ihrer toten Schwester, die ihre Fehler gehabt hatte, aber nicht berechnend oder habgierig gewesen war und sich auch nicht von ihrem Mann damals trennen wollte, obschon sich genug Ohrenbläser fanden, die ihr dazu geraten hatten.
»Das verstehe ich nicht«, erklärte sie. »Und du hast diesem Testament zugestimmt? Du bist ein Narr, Felix, nein, manchmal bist du zu gut. Also, eines kann ich dir jetzt schon versichern, daß wir dieses Testament nicht anerkennen werden, Greta und ich, und uns allen, also auch dir, den Teil am Erbe sichern werden, der uns beiden Mädchen und auch dir als Witwer zusteht.«
Das klang kämpferisch. Morak kannte seine Schwägerin; er erinnerte sich daran, daß die drei Schwestern zu Lebzeiten Marias, seiner Frau, viel und gern geredet, geschnattert und geklatscht, und daß sie sich bisweilen heftig gestritten hatten. Er gab nicht viel auf die Ankündigung gegen das Testament vorzugehen. Die Energie der drei Schwestern hatte sich meist im Klatsch bei Kaffee und Kuchen erschöpft. So schwieg er, während sie weiter gingen und dem Hotel zustrebten.
»Nun, ich begreife, daß es dir schwerfällt, Hanna zurückzubringen. Da gibt es ja auch diese Pietät, wie man so sagt. Bitte, mag sie auch einen Teil aus dem Erbe bekommen. Aber alles? Nein! Ich sage dreimal nein! Gut, daß ich gekommen bin, als du mich gerufen hast. Konnte ich das denn ahnen? Ich will dir helfen, sonst bliebe alles bei dem, was meine Schwester gewollt hat, ich meine, soweit es Hanna betrifft.«
Morak traute seiner Schwägerin nichts Schlechtes oder Boshaftes zu. Für ihn war Isolde immer noch die Schwägerin, obwohl der Tod der Schwester ihre Beziehungen womöglich verändern würde.
»Nun, was sagst du?« drängte sie.
»Nichts, bin nur der Vormund Hannas. Da reden noch ein paar andere mit; die Klinik, der olle Professor, der sie behandelt hat, die Tunte von der Heimerziehung, das Vormundschaftsgericht, na, und so weiter. Übrigens weiß ich nicht einmal, was genau in dem Testament steht, also es gibt gar keinen Grund sich aufzuregen.« Er unterbrach sich. »Was in Hannas Kopf vor sich geht, das weiß keiner. Und übrigens, ich werde vielleicht bald wieder heiraten; wer kann schon allein leben? Kannst du es?«
»Natürlich«, sagte sie forsch, »ich tue es ja, und fühle mich sehr wohl dabei.«
Die Nachricht, daß er so kurz nach dem Tode seiner Frau schon wieder heiraten wollte, brachte aber doch einen neuen Gesichtspunkt in die Sache. Und das angebliche Wohlbefinden in ihren einsamen vier Wänden aufrecht zu erhalten, wäre ihr auch schwer gefallen; sie wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. Sie lebte ja allein, aber lebte sie wirklich und lebte sie gut? Das heißt, war sie glücklich, glücklicher als dieser Halbmensch Hanna?
»Sie hat über zehn Jahre bei uns gelebt, und die Klinik oder eine Gärtnerei will jetzt mit ihr so was wie einen Lehrvertrag schließen. Gartenarbeit,