Der 884. Montag. Gunter Preuß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunter Preuß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847616818
Скачать книгу
Er hatte ein Heft, das er mit verklemmten Witzen vollkleisterte. Wenn er bei einer Familienfeier randvoll war, las er daraus vor. Olga hat die letzten zwei ordnungsgemäß unter die Erde gebracht. Beide auf einem Fleck. Platz hat sie noch für zwei, drei mehr gelassen.

      Am liebsten ist mir Jack der Seemann. Wenn ich manchmal sein Bild an-sehe, schmecke ich das Salz des Meeres, spüre einen frischen Wind um meine Nase wehen und rieche geteerte Decksplanken. Der Seemann ist verschollen. Keiner spricht mehr von ihm. Auch Olga ist kein Sterbenswörtchen zu entlocken. Ab und zu trinken Jack und ich ein Glas Grog zusammen. Wenn bei mir der Pegel auf Null steht. Er ist ein verdammt feiner Kerl. Nur ist er wie alle feinen Kerle ein Gespenst, das einem zwar oft im Kopf herumspukt, aber nie lebendig werden will. Das muss doch einen Grund haben.

      Da es mit der christlichen Seefahrt bei mir nichts wurde - wegen meiner Pumpe eben -, ist mir Schwachstromer schon lieber als Pauker. Heraussuchen konnte ich mir die Lehrstelle nicht. Nach tausend Bewerbungen hätte ich höchstens noch Verkäufer werden können. Aber ich will am großen Beschiss nicht teilhaben und all den teuren Müll unter die Leute bringen. Als Friseurlehrling hätte es wohl auch noch geklappt, das Strohgeschäft fährt jede Menge Kies ein. Denn wer nichts im Denkapparat hat, will wenigstens einen schnurgeraden Scheitel oder Locken darauf haben.

      Bevor ich in der Pathologie bei den Technikfreaks gestrandet bin, fuhr ich auf dem Güterboden Kisten in die Waggons und andere raus. Ich hätte es dort bestimmt eine Woche länger ausgehalten. Doch so ein granitalter Gehirnamputierter, der als Nachtwächter engagiert war, erzählte uns immer wieder aus dem Krieg, wie er sich durch ganz Frankreich gebumst und nur von verdammtem Champagner gelebt hätte. Und wie sich die heutige Jugend in die Hosen scheißen würde, wenn es mal plauzen täte. Ich konnte keinen Tag länger bleiben, sonst wäre was passiert, wofür es keine Bewährung gibt.

      Danach ging ich zum Theater. Dort habe ich fleißig Kulissen geschoben und mir jeden Abend die vermotteten Arien von einem knödelnden Othello und einer runtergebrannten Desdemona anhören müssen. Hier hat es mir am meisten gestunken. Die Leute haben den ganzen Tag großmäulig von Mitsprache bei Besetzungsfragen gesäuselt. Doch in Wirklichkeit hatten sie mächtige Angst vorm Intendanten. Sie sanken schon auf die Knie, wenn nur sein Name genannt wurde. Den Rest aber gaben mir ein paar schwule Freddys vom Ballett gegeben, die nach Veilchenseife und Kölnischwasser mieften und einander Eifersuchtsszenen machten. Das alles fand ich noch ganz in Ordnung. Aber als dann einer hinter mir her war, wie ich noch nie hinter einem Mädchen, nahm ich meinen Abschied.

      Nun war ich also in diesem Kellerloch auf Grund gelaufen. Ich hörte von weither Schiffssirenen rufen und Möwen schreien. Ich wollte gerade eine exakte Kehrtwende vollziehen, da drückte mir Kauer eine Werkzeugtasche in die Hand und sagte: "Na denn, Mutzelkopp, wollen wir mal."

      Mutzelkopp - ich hieß schon Säckel, Bruni, im Paukklub Einstein, in meiner Punkerzeit Grüne Wolke, bei den Neo-Glatzköppen Göbbels, und die Gruftis riefen mich Schneller Tod. Aber niemals hieß ich Mutzelkopp. Das schmeckte mir doch verdammt fischig. Ich hätte dafür Kauers pomadisierten Skalp von seinem Schädel ziehen sollen.

      Doch ich gab den anderen ordentlich Pfötchen und machte vor jedem einen Knicks. Sie hatten allesamt einen Blick drauf, als wüssten sie nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollten. Aus der Neuzeit war von ihnen keiner mehr. Sie waren alle Mittelalter bis finsterstes Tertiär. Schimmel hatte jeder schon angesetzt in diesem Verlies.

      An der Tür stieß ich mit Firat zusammen. Meine blaue Feder rutschte hinters Ohr, was ich sofort korrigierte. Ich habe keinen Schimmer, ob der Terz beabsichtigt war. Aber er sah mich an, als sollte ich eine stilreine Entschuldigung loslassen. Ihm war eine Zange aus der Werkzeugtasche gefallen. Er machte keine Anstalten, sich zu bücken. Alle standen an der Tür und guckten auf die Zange und auf mich. Schließlich krümmte sich Kauer und steckte das Werkzeug in Firats Tasche zurück.

      4.

      Als ich mit Kauer durchs Klinikgelände joggte, sagte er: "Der Firat ist gar nicht so übel, Mutzelkopp. Man muss ihn nur zu nehmen wissen. Von Schwachstrom versteht er eine ganze Menge. Überhaupt. Er lässt sich nichts vormachen."

      Die Sonne knallte uns auf die Köpfe. Wir krochen in einen Schuppen, der sich Labor nannte und wo den Patienten Blut abgezapft wurde. Kauer und ich rissen Strippen von den Wänden und nagelten neue an. Mir gelang es tatsächlich, die Nägel gerade in die Wand zu hämmern.

      Ich sagte: "Und wenn man ihn nicht zu nehmen weiß, den Firat?"

      Kauer umkurvte einen ausgedienten Catcher, der sich Oberschwester nannte, und meinte: "Du wirst das schon noch mitkriegen, wie der Hase läuft. Darfst nur keinen Firlefanz veranstalten."

      Punkt neun ließ Kauer Hammer und Zange fallen. Er schluckte drei bunte Pillen und wickelte ein stinkiges Käsebrot aus, von dem er jeden Bissen vorschriftsmäßig fünfundzwanzig Mal kaute. Das hinderte ihn nicht, mir zu er-zählen, wie viel Urlaub ich zu beanspruchen hätte, dass wir Überstunden weder bezahlt bekämen noch abfeiern könnten. Und dass ich eine Lebens-versicherung eingehen sollte, und was er sonst alles noch drauf hatte.

      Ich sagte: "Und wenn ich nicht mitkriege, wie der Hase läuft - was ist dann?"

      Kauer kaute weiter, sah mich an und sagte: "Das wirst du schon schaffen, Mutzelkopp. Du hast doch alle beisammen. Denk ich. Oder? Was meinst du?"

      "Und wenn ich es gar nicht schaffen will?" Ich stieß ein Fenster auf, weil ich sonst an dem verdammten Käsegestank totgegangen wäre. "Nimm mal an, ich will es nicht schaffen."

      "Mach doch mal die Tür zu", sagte Kauer. "Ich hab's im Kreuz. Weißt du. Hier zwischen unten und oben. Ich kann keinen Zug vertragen. Schon der leiseste Zug geht mir ins Kreuz."

      Ich öffnete noch ein Fenster. Die Kranken hier konnten kaum noch kränker werden, wie die aussahen. Ich sagte laut und deutlich: "Arsch".

      "Was hast du gesagt?"

      "Arsch hab ich gesagt."

      Kauer packte den Rest von seinem Käsebrot ein, als wäre es Meissner Porzellan. Dann fingerte er eine Zigarre aus einer Kiste. Er drehte und wendete sie und schob sich schließlich ein Ende zwischen die Lippen.

      Kauer erzählte weiter drauflos, er wusste wohl selber nicht was. Er rauchte seine Billig-Havanna genau bis zur Hälfte, drückte sie vorsichtig aus und legte sie zurück in die Kiste. Er zog einen Gummiring drüber, stand ächzend auf und sagte: "Da wollen wir mal wieder."

      Inzwischen hatte die Oberschwester Kauer hundertmal ans Telefon gerufen. Immer war Firat dran. Er wollte wissen, ob wir auch fleißig ranklotzen würden, wie ich mich so mache, und was wir alles an diesem Tag noch schaffen müssten. Kauer nickte und wiederholte fortwährend: "Jawohl, Meister. Jawohl."

      Wir gingen in ein anderes Gebäude, wo Chefsekretärinnen vor Computern saßen und auf der Tastatur klimperten. Die Ladys betrachteten uns als willkommene Abwechslung und gleich fühlte ich mich als halber Hahn auf einen ausschließlich femininen Hühnerhof versetzt. Eine wollte meinen Namen wissen, was ich vorher gemacht und ob mich meine Mutter kalt oder heiß gebadet hätte. Eine andere säuselte über ein Kreuzworträtsel gebeugt: "Einundvierzig waagerecht - Höllenhund, Wächter an der Unterwelt? Was die sich da wieder ausgedacht haben. Wissen Sie, junger Mann, wie dieses Tier heißt?"

      "Ich habe keinen Schimmer", sagte ich. "Wenn's nicht der Hund von Baskerville oder Krambambuli ist." Ich wünschte mir, dass ich den Zerberus hier gehabt hätte, damit er seine Zähne zeigt.

      Ich rüttelte an der Leiter, auf der Kauer stand. Kauer rief: "Was ist denn, Mutzelkopp? Soll ich mich zu Tode stürzen?"

      "Ja, was soll denn das?", erkundigte ich mich. "Lass doch die verdammten Uhrzeiger stehen, wo sie stehen. Als ob es eine Rolle spielen würde, auf welchen Zahlen die blöden Zeiger außer Atem kommen, wenn sie ihre Gefängnisrunden drehen."

      "Hast du eine Ahnung", rief Kauer. "Das ganze Leben käme durcheinander. Warte nur. Das kriegen wir hin. Auf die Sekunde genau."

      Endlich