»Patrick.« Daniel starrte betreten in die Kaffeetasse. Noch immer gab er sich die Schuld am Tod seines besten Freundes, denn er hatte ihn zu dieser winterlichen Wanderung überredet.
Phelan nickte. »Also, auch Patricks Leiche hat die Polizei nicht finden können. Er wird bis heute als vermisst geführt, genauso wie Waldemar Brandes. Und genauso wie ein gewisser Peter Rost.«
»Wer ist das?«
»Ein Privatdetektiv, den Maria Brandes beauftragt hat, ihren Mann aufzuspüren.« Phelan leerte seine Tasse. »Was ist im Januar dieses Jahres nördlich des Brockengipfels wirklich passiert?«
Daniel schwieg eine Weile. Dann seufzte er auf. »Also gut, aber erklär mich hinterher bitte nicht für verrückt, ja? Ich kann es selbst kaum glauben.« Als Phelan nichts sagte, redete er weiter. »Ich hatte Anfang des Jahres einen Patienten mit furchtbaren Bissverletzungen. Kurz bevor er starb, erhielt ich von ihm eine Karte des Südharzes und des Brockens und musste ihm versprechen, ›ES‹ zu finden und zu beenden.«
»ES?«
»Ja, mehr hat er mir nicht verraten. Ich sah mich ihm gegenüber verpflichtet, weil ich sein Leben nicht retten konnte. Er hatte eine schlimme Wundinfektion, ich hatte keine wirkliche Chance, ihm zu helfen. Allerdings lehnte der Mann auch sämtliche lebensverlängernden Maßnahmen ab, obwohl diese ihm wahrscheinlich das Leben hätten retten können.« Er seufzte. »Jedenfalls wollte ich eh meinen Winterurlaub im Harz verbringen. Also dachte ich, es würde nicht schaden, die Orte zu inspizieren, die der Patient auf der Karte markiert hat.«
»Du hast deinen Urlaub zusammen mit Patrick verbracht, richtig?«
»Ja. Ich habe ihn überredet, bei unserer Brockenwanderung einen Abstecher zu machen, aber es wurde dunkel und wir verliefen uns. Im Wald stießen wir auf eine alte Ruine. Darin fanden wir einen Kerker voller eingesperrter Menschen.«
Der medizinische Ermittler setzte sich mit einem Ruck auf. »Eingesperrte Menschen?«
»Ja. Männer, Frauen, sogar Kinder. Darunter Waldemar Brandes. Und dann ...« Er hielt inne und sah sich ängstlich um. Mit gesenkter Stimme sprach er weiter. »Sie haben sich verwandelt.«
Phelan sah ihn argwöhnisch an. »Die Menschen haben sich verwandelt?«
»Vor unseren Augen, ja! Ich schwöre, so war es!«
»In was?«
Daniel atmete tief durch, bevor er sagte: »In Wölfe!«
Kapitel 3.
Phelan betrat den Vorraum des Büros und schloss sorgfältig die Tür.
»Und, war das Gespräch aufschlussreich?«, wollte Bea wissen, seine Assistentin. Sie sortierte hinter dem Tresen gerade eine Akte.
»Das könnte man sagen«, antwortete er knapp und marschierte zu seinem Büro. Dann blieb er stehen. »Können Sie mir Satellitenbilder des Brockens besorgen?«
»Sie meinen den Gipfel im Harz?«
Phelan nickte. »Allerdings nicht diesen Google-Maps-Firlefanz, sondern richtige Bilder.«
»Verstehe. Das lässt sich machen. Reicht es in 20 Minuten?«
Der Arzt nickte erneut und schloss die Bürotür hinter sich. Einige Sekunden später riss er sie jedoch wieder auf. »Und danach benötige ich sämtliche Informationen, die Sie über einen gewissen Dr. Aubuchon finden können.« Er buchstabierte ihr den Namen und verschwand endgültig in seinem Büro.
Am nächsten Morgen war Daniel zum vereinbarten Zeitpunkt an der genannten Adresse. Während er noch das vor ihm aufragende Bürogebäude betrachtete, hob sich die Schranke zur Tiefgarage und ein schwarzer VW-Bus kam heraus. Er hielt direkt vor ihm am Bordstein, so dass er den Fahrer erkennen konnte. Mit der markanten Brille konnte es niemand anderes als Phelan sein.
Er öffnete die Beifahrertür und kletterte umständlich hinein. Nachdem er den Rucksack zu seinen Füßen platziert hatte, fuhr Phelan mit quietschenden Reifen an. »Gab es Probleme?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Mein Chef war keineswegs begeistert, aber Krankenschein ist eben Krankenschein. Dass ich noch Probleme mit den Bissverletzungen habe, ist ja auch nicht weit hergeholt.«
»Und kein bisschen gelogen«, bemerkte der Ermittler mit einem kurzen Seitenblick. Daniel ging nicht darauf ein. Phelan hatte das auch nicht erwartet, sondern sprach weiter: »Die Polizei ist damals keinesfalls gründlich vorgegangen.«
»Warum?«
»Die haben nicht einmal die Ruine finden können, die du beschrieben hast.«
»Ich wusste die genaue Lage nicht mehr. Die Karte hatte ich zusammen mit dem restlichen Gepäck im Wald verloren.«
Phelan winkte ab. »Nebensächlich. Meine Assistentin hat 15 Minuten gebraucht, eine Luftaufnahme des Gebäudes ausfindig zu machen und weitere 20 Minuten, um in Erfahrung zu bringen, dass es sich dabei um die Überreste des alten Brocken-Sanatoriums handelt.«
»Aubuchon nannte es in der Tat ein Sanatorium.«
»Dort wurden wohlhabende Bürger mit Tuberkulose behandelt. Die frische Harzluft tat den Leuten gut. Als die Entwicklung moderner Antibiotika derartige Therapien obsolet machte, wurde die Einrichtung geschlossen und verfällt seitdem. Es ist schwer zu finden, weil die Zufahrtsstraße inzwischen vom Wald verschluckt wurde und es nur zu Fuß durch unwegsames Gelände zu erreichen ist. Sogar in der Szene der Geocacher und der sogenannten Lost-Place-Fotografen ist das Objekt fast völlig unbekannt, und das will was heißen, richtig?«
»Klingt nach einem idealen Versteck.«
Phelan schien das für offensichtlich zu halten, jedenfalls kommentierte er diese Bemerkung nicht. »Kommen wir zu Dr. Aubuchon.«
»Über den hast du auch etwas in Erfahrung bringen können?«, staunte Daniel.
»Meine Assistentin war so nett.« Während er weiterfuhr, kramte Phelan einen Stapel zusammengefalteter Blätter aus der Mittelablage und entfaltete sie mit einer Handbewegung. »Frédérick Aubuchon, 1949 in Paris geboren, Sohn von Èglise und Alain Aubuchon. Die Eltern waren sehr wohlhabend. Nach seiner Ausbildung auf einer teuren Privatschule studierte Aubuchon Medizin, praktizierte einige Jahre als Neurologe und promovierte schließlich. Seine Doktorarbeit trug den Titel »Zoonoseninduzierte neurologische Degeneration«. Er arbeitete in einer ganzen Reihe von Krankenhäusern in Frankreich und Deutschland. Nirgends blieb er sehr lange. 1990 unternahm er mit seinem Assistenten Mathéo Leclerc eine Forschungsreise nach Schottland. Sie kamen allerdings nie an. Ihr Flugzeug, eine einmotorige Cessna, stürzte über dem schottischen Festland ab und wurde nie gefunden. Man geht davon aus, dass die Piloten und die beiden Passagiere dabei ums Leben gekommen sind.«
»Man hat das Flugzeugwrack nicht gefunden?«
»Angeblich ist es mitten in der Nacht in den Loch Lomond gestürzt. Das ist der größte See Schottlands. Und wer hätte an so einer Suche Interesse? Aubuchon und Leclerc hatten keine Angehörigen mehr.«
»Aber mindestens Aubuchon muss den Absturz überlebt haben!«
»Oh, Leclerc auch!«
»Warum? Von dem habe ich nie gehört!«
Phelan schwieg eine Weile, während er den VW-Bus auf die Autobahn Richtung Erfurt lenkte. Dann wandte er sich zu Daniel. »Leclerc hatte einen Spitznamen.«
Daniel ahnte bereits, was kommen würde. Mit großen Augen sah er Phelan an. Dieser nickte. »Mathéo Leclerc wurde meistens Stryker genannt. Der Name kommt dir bekannt vor, richtig?«
Sie waren erst wenige Kilometer weit gekommen, als Phelan den Blinker setzte und die Ausfahrt ansteuerte. Daniel sah stirnrunzelnd auf die Straßenschilder. »Wo willst du hin? Ich dachte, wir fahren in den Harz?«
»Tun