Die Legende der Alten. Torsten Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Torsten Thiele
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847692065
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plötzlich erstarben, tat er es doch. Kex Mutter lag auf dem Boden, ihr Kopf im eigenen Blut. Sein Vater drehte sich um.

      „Was glotzt du so? Sie ist hingefallen! Los steh wieder auf, du kleine Schlampe“, lallte er und trat dabei Kex Mutter in den Bauch.

      Sie rührte sich nicht.

      „Ach was soll’s. Mach dich nützlich und bring mir Bier. Jetzt mach oder es setzt was!“, befahl Kex Vater, ging zum Tisch und setzte sich.

      Kex tat wie ihm geheißen und ging in die Küche, Bier holen. Dabei musste er dicht an seiner Mutter vorbei. Sie lag immer noch regungslos am Boden, ihre Nase schien gebrochen, ihre Lippen waren aufgeplatzt, das rechte Auge komplett zugeschwollen. Eine große Platzwunde zog sich über die Stirn bis zur Schläfe, Blut rann über die Wange zum Ohr, tropfte von dort auf den Boden und versickerte zwischen den Ritzen der Holzdielen. Kex blieb stehen und beobachtete die Szene eine Weile. Seine Hände zitterten.

      „Wo bleibt das Bier!“, brüllte sein Vater.

      Kex zuckte zusammen und rannte in die Küche. Nachdem er vor seinem Vater das Bier auf den Tisch abgestellt hatte, kniete er sich neben seine Mutter auf den Fussboden. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und tupfte mit einem Tuch das Blut von ihrer Stirn, so wie sie es bei ihm schon unzählige Male getan hatte. Er saß so für Stunden, weinte leise. Seine Mutter jedoch wachte nicht wieder auf.

      ***

      Es war nun zwei Wochen her, seit sie Kex Mutter den Flammen übergeben hatten. Kex kam seither nur noch zum Schlafen nach Hause, meist spät in der Nacht, wenn sein Vater längst im Bett lag, oder zu betrunken war, noch die Hand gegen ihn zu erheben. So hatte er lediglich dreimal Prügel bezogen. Auch heute hoffte Kex, ungeschoren davonzukommen. Als er seinen Vater am Tisch sitzen sah, schwand seine Hoffnung. Sein Vater war nicht allein, ein weiterer Mann saß ihm gegenüber. Kex sah ihn nur von hinten. Der Mann hatte den Schädel kahl geschoren, ein Hut lag vor ihm auf dem Tisch. Neben ihm lehnte eine abgegriffene Holzkrücke an der Tischkante, dem Mann fehlte ein Bein.

      „Ah, da ist ja mein Prachtjunge. Komm her!“, befahl Kex Vater in ungewöhnlich sanftem Ton.

      Er schien nicht einmal sonderlich betrunken zu sein. Zögernd trat Kex an den Tisch. Im fahlen Licht der kleinen Kerze, die auf dem Tisch brannte, konnte Kex jetzt auch das Gesicht des Fremden sehen. Es war mit Narben und roten Pusteln übersät. Überall lösten sich kleine Hautschuppen. Der Fremde musterte Kex von oben bis unten.

      „Komm näher. Zeig mal deine Zähne“, sagte der Fremde mit krächzender Stimme.

      Kex rührte sich nicht. Sein Vater ballte die Faust, atmete dann langsam aus.

      „Jetzt mach schon“, sagte er dann gepresst.

      Langsam ging Kex zu dem Fremden, beobachtete ihn dabei misstrauisch. Der Mann wandte sich zu Kex um und tastete seine Oberarme ab.

      „Die Zähne“, krächzte er noch einmal.

      „Jetzt mach endlich dein Maul auf“, explodierte Kex Vater.

      Kex zeigte dem Fremden seine Zähne. Der verzog kurz den Mund und drehte sich dann wieder zu Kex Vater.

      „Er ist dürr, ihm fehlen zwei Zähne und besonders aufgeweckt scheint er auch nicht zu sein. Ich gebe dir fünf Silberlinge für ihn“, sagte der Mann.

      „Das ist nicht Euer Ernst. Er kann kräftig anpacken, er braucht nur ein wenig Training. Der Junge ist mein einziger Sohn, seit dem unglücklichen Tod meiner Frau, das einzige, was ich noch habe. Vielleicht habe ich ihn nur einfach nicht hart genug rangenommen. Das könnt Ihr mir nicht zum Vorwurf machen. Ich hänge an dem Jungen und gebe ihn nur ungern weg. Es ist nur so, dass mir seit dem Tod meiner Frau das Geld fehlt. Es reicht einfach nicht mehr für den Jungen. Schließlich musste ich seit meinem Unfall den Dienst bei der Stadtwache aufgeben, Ihr wisst, meine Hüfte. Gerade Ihr müsstet das verstehen…“, lamentierte Kex Vater.

      „Ach, ich mag wie Ihr ein Krüppel sein, doch im Gegensatz zu Euch hindert mich dies nicht, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Fünf Silberlinge, das ist mein letztes Angebot“, entgegnete der Fremde.

      Er ließ die fünf Silbermünzen auf den Tisch klimpern.

      „Aber davon kann ich kaum einen Monat leben“, jammerte Kex Vater, griff aber nach dem Geld.

      „Das ist Eure Sache“, sagte der Mann.

      Dann stand er auf, nahm seinen Hut vom Tisch, klemmte sich die Krücke unter die Achsel und trat neben Kex. Er legte seine Hand auf dessen Schulter.

      „Mein Name ist Esrin. Du gehörst jetzt mir. Ich habe eine Menge Geld für dich bezahlt und muss dich obendrein noch durchfüttern. Du wirst für mich arbeiten und ich verlange Gehorsam. Verstanden?“, fragte er.

      Kex nickte eingeschüchtert.

      „Gut, dann pack deine Habseligkeiten zusammen und komm.“

      Diebesbande

      Die Einöde, meilenweit nichts als trockene Erde, grau, unwirtlich. In der Ferne zuckten Blitze über den Himmel. Aufgetrieben vom Wind huschten kleinere Trichter aus Staub über die Ebene, drehten sich, wirbelten mal in die eine Richtung, dann plötzlich in eine andere, fielen in sich zusammen, nur um kurz darauf, wenige Meter daneben, wieder neu zu entstehen. Fast schien es, als würden sie tanzen. Ein Ballet, die Einöde als Bühne und Kex als Zuschauer. Das gleichförmige Surren der beiden Windräder –Relikte der Alten –, die hinter Kex gespenstisch in den Himmel aufragten, lieferte die Musik dazu. Kex genoss die Aussicht. Mehrere hundert Meter erhob sich die Klippe hier über der Ebene. Unweit schmiegte sich der große Fahrstuhl an den Felsen, seine Holzbalken gebleicht von der Sonne. Er war der einzige Weg in die Einöde, schon seit Jahren hatte ihn niemand mehr benutzt. Was sollte man auch da unten? Dort gab es nur Staub. An die Verdammten, die in der Einöde leben sollen, glaubte Kex nicht. Er hatte schließlich noch nie einen von ihnen gesehen. Wahrscheinlich waren sie eine ebensolche Legende wie die Städte der Alten. Es soll sie ja geben, weit hinter dem Horizont. Kex kannte nur Ruinen, die wenigsten waren einladend. Trotzdem träumte er manchmal von den Städten. Eines Tages würde er hinausziehen, stellte Kex sich vor, und sie finden, irgendwann. Viele sind bereits aufgebrochen, nach ihnen zu suchen, bisher ist niemand zurückgekehrt. Er würde zurückkehren, er würde ein Held sein.

      Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Rücken riss Kex aus seinen Tagträumen. Er kannte diesen Schmerz und schon lange hatte er aufgegeben, zu zählen, wie oft ihm Esrin seine Krücke zwischen die Schulterblätter gerammt hatte. Mittlerweile nahm er es mit einem gewissen Stumpfsinn hin, wirklich daran gewöhnen konnte er sich wohl nie. Der Schmerz verging, der gekränkte Stolz aber blieb. Irgendwann würde er den alten Krüppel dafür umbringen, nicht jetzt, nicht heute, irgendwann.

      „Habe ich mir doch gedacht, dass du wieder hier herumlungerst, du elender Taugenichts. Man sollte dich in die Einöde schicken, die du anscheinend so magst. Es ist Markttag, die Stadt voller Menschen und das Gedränge ideal für uns. Also mach gefälligst, dass du zu den anderen auf den Marktplatz kommst, es gibt Arbeit. Ich füttere dich nicht umsonst durch!“, krächzte Esrin.

      Widerwillig erhob sich Kex. Ein paar kleinere Kieselsteine lösten sich vom Rand der Klippe und klimperten hinunter in die Einöde. Esrin war nervös einige Schritte zurückgetreten. Kurz nahm er den Hut mit der breiten Krempe vom Kopf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Sein Gesicht war mit Pusteln übersät, Zeichen eines Lebens unter freiem Himmel. Einen Gesichtsschal, so wie Kex und die meisten anderen Menschen, trug er selbst im Sommer nicht. Normalerweise vermied Esrin es, hierher zu kommen. Auch ein Grund, warum Kex diesen Platz so mochte. Nur bei besonderen Anlässen holte Esrin Kex persönlich ab, es musste also einen solchen Anlass geben. Doch Esrin schwieg, während er neben Kex den Hügel hinauf zum Stadttor humpelte. Kex fragte nicht, er würde es noch früh genug erfahren.

      Vor dem Tor warteten Händler, Bauern und Handwerker aller Art darauf, in die Stadt eingelassen zu werden. Gerade durchstöberten die Wachen den Karren eines Händlers. Sie begutachteten seine Waren von allen Seiten, schafften einige hübsche Stücke in das Wachhaus, andere warfen sie achtlos vom Wagen herunter. Der Händler