DIE LSD-KRIEGE. Gerald Roman Radler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Roman Radler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748592853
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war gebrochen. Es hatte keinen Grund für eine überstürzte Abreise gegeben. Ich hatte nichts getan, was diese übertriebene Reaktion rechtfertigte. Carolas Betragen hätte niemals die grausamen Folterungen durch den Vater nach sich ziehen dürfen, mit deren Auswirkungen sie womöglich ihr ganzes Leben zu kämpfen hatte. Es drängte sich der Verdacht auf, dass Carola schon oft heftig geschlagen wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser jämmerliche Rowdy erst heute zum ersten Mal ausgerastet war. Ich empfand keine Schuld. Dennoch litt ich unter der Zuweisung von Schuld. Dieses traumatische Schlüsselerlebnis war der Beginn eines furchtbaren Missverständnisses, das mein Leben komplett aus der Bahn warf. Ich zog in meiner Demütigung falsche Schlüsse, aus denen weitere Fehler geboren wurden.

      Denn Rest der Ferien verbrachten wir in gedämpfter Stimmung in Wien. Bevor ich meine Nachprüfung in Mathematik und Latein absolvierte, lief ich von zu Hause – in jenem schicksalhaften Sommer 1974 – weg, um mein altes Leben hinter endgültig mir zu lassen. Aber in Wirklichkeit suchte ich mich selbst und das Mädchen auf der Bank im Wald. Welchen Grund gab es sonst, an den Ort der unangenehmen Erlebnisse zurückzukehren?

      ERINNUNGEN AN DIE LIEBE

      Die Ereignisse des abgebrochenen Urlaubes fesselten mich in einer ungesunden Weise an Hinterwildalpen. In meinen Gedanken kam ich nicht los von dem Bild der Wildalpenstraße, die in einer Sackgasse mündete, an deren Ende das Jägerhaus mit den aufragenden Bergen stand. Nur ein immer schmäler werdender Pfad, der hinter dem Anwesen begann, erlaubte einen Zutritt in die verwilderte, idyllische Landschaft des Gebirges. In meiner Fantasie bauschte sich der romantische Trichter zum Ende der Schöpfung auf, hinter dem eine neue, bessere Welt wartete. Ich musste nur die Straße als geistige Entwicklung sehen, sie entlang gehen und die magische Schwelle überschreiten, bis ich meine alte Welt verlassen hatte und in eine Welt eintauchte, von der ich nie etwas gehört hatte. So konnte ich ein neues Leben beginnen. Niemand kannte mich und die schmachvolle Herabwürdigung meiner Gefühle, jenseits des Hauses, im verheißungsvollen Land. Ich konnte einen anderen Namen tragen und würde von Stunde zu Stunde das wirkliche Leben wie ein Handwerk erlernen. Zwanghafte Gedanken beschäftigten mich, während ich meine Habseligkeiten in einem Beutel verstaute und am späten Nachmittag zu einem Stadtbummel – wie so oft in diesen Tagen – aufbrach. Mein ganzes Trachten konzentrierte sich auf die Lösung aller Probleme gleichzeitig. So wie ein Selbstmörder denkt, der plötzlich im Tod die Auflösung jeglicher Verstrickung sieht und mit Freude ans Werk geht, verließ ich die Stolzenthalergasse. Ich hatte keine Geduld die verworrenen Fäden meines Schicksals einzeln aufzubinden, obwohl mir die Notwendigkeit zu sorgfältiger Arbeit tief im Inneren klar war. Nein, ich gedachte ein Übermensch zu werden und mit einem Schlag zu einem höheren Bewusstsein zu gelangen. Ich spürte den Helden in mir, der sich zum erbarmungslosen Kampf gegen den Drachen mit meinem Gesicht aufbäumt. Ich hatte keine Möglichkeit, meine zur Verfügung stehenden Kräfte einzuschätzen. Aber ich fühlte mich zumindest stundenweise dem Ringen um die Gerechtigkeit gewachsen.

      Ich löste nach langem Überlegen am Westbahnhof ein Ticket nach Mariazell, und damit war mein Geld auch schon fast zur Gänze verbraucht. Während der Fahrt stand ich auf der hinteren Plattform im Freien und starrte in die dämmernde Landschaft. Als ich in dem kleinen Wallfahrtsort ankam, dessen Kirchlein bereits im Halbdunkel lag, war es halb neun Uhr. Nur älteren Damen und Herren waren zum Pilgern ausgestiegen. Ich fühlte mich deplatziert und hatte einen scheußlichen Kloß im Hals stecken. Aber auch wenn sich die Wirklichkeit nicht ganz mit meiner Vorstellung deckte, so reichten die romantischen Überlappungen noch, um mich voranzutreiben. Leider schwelte im Hintergrund die Depression ein wenig zu laut, um sie zu überhören. An diesem Punkt schuf ich einen Verdrängungsmechanismus, der halb bewusst gestartet wurde und den Zusammenbruch verhindern sollte. Es handelte sich um ein inneres Zwiegespräch, dass die Realität neu schrieb, aber die äußeren, sichtbaren Pfeiler der Tatsachen nicht versetzte. Die so geschaffene, neue Wirklichkeit sollte sich mit dem, was die Menschen sahen, noch annähernd decken können. Ich wollte mit diesem Gehirntraining sicher gehen, dass ich nicht lediglich einem Trugbild aufsaß, welches niemand außer mir wahrnehmen konnte. Kurzum, nun machte es also Sinn, hier zu sein und ich schritt Frohgemutes aus.

      Rasch fand ich die Straße, die mich nach Eisenerz bringen sollte und bald war es finster. Ich weiß nicht, worüber ich sonst noch alles nachgedacht hatte, als ich in die Schwärze der Nacht hineinging. Aber ich legte mir hauptsächlich einen Lebensplan zurecht, der überhaupt nicht in meine akute Gefühlslage passte und daher zu einer Lebenslüge konvertierte. Meine Angst stieg stetig ins Unermessliche, als ich gegen Mitternacht in Weichselboden einzog. Einige unbeleuchtete Häuschen gab es nur in der Nähe des Schildes. Das Sträßchen war von immer höher ansteigenden Nadelbaumreihen umsäumt. Linker Hand befand sich ein wuchtiges Sägewerk. Schon von weitem rätselte ich über das Gelände. Mir schwante Übles beim Anblick der Anlage, in der ich einmal einen Galgen zu erkennen glaubte, ein anders Mal eine Abschussrampe für Raketen. Als ich dann endlich vor dem Werk stand, war meine irrationale Furcht um nichts gemildert. Die Angst stieg, als ich mich genauso vor einem Sägewerk, wie vor einer Menschen vernichtenden Maschine fürchtete. Hunderte Baumstämme lagen drohend in den Himmel getürmt. Keine Menschenseele war zu sehen. Es kam dann doch noch ein Auto vorbei – es sollte in der ganzen Nacht das Letzte sein. Ich erwog, es zu stoppen, versteckte mich dann aber geduckt hinter der Böschung. Die Schemen der zerklüfteten Felsen sahen immer bedenklicher aus. Ich wollte beinahe Fersengeld geben und in fliehender Eile umkehren, aber ich konnte mich nicht besiegen lassen. Weder der Natur, noch meiner unmenschlichen Angst wollte ich mich beugen. Das war der erste Tag in meinem bisherigen Leben, an dem ich mutterseelenallein in der Wildnis auf Abenteuersuche ging. Ich war ein wohl behütetes Kind gewesen, dem alles, was den Eltern gefährlich schien, verboten wurde. Sogar das Radfahren, das ich für meine Leben gerne tat, fiel in den verwehrten Bereich, der strikt untersagt wurde. Stattdessen bekam ich zu hören, ich wäre nicht gesund geboren und liebevoll heran gezogen worden, um dann als Krüppel, ohne Arme und Beine, die mir ein Lastwagen abfahren könnte, im Rollstuhl vor mich hinzudämmern. Also überwand ich meine Furcht, indem ich mir einredete, das Richtige zu tun und ging die schmale Landstraße so lange weiter, bis ich zu einem in den Fels gehauenen Tunnel geriet.

      Vor mir gähnte ein unheimlich schwarzes Loch. Schmatzende Geräusche drangen über meine überreizten Nerven zu den Ohren, die ständig auf eine akustische Veränderung in der Umgebung achteten. Beherzt schritt ich in die Schwärze, aber nur, um nach zwanzig Schritten umzukehren und zu laufen, als wäre der Leibhaftige hinter mir. Es mochte eine Stunde vergangen sein, in der ich vor dem Eingang auf und ab ging, wieder mutig vorwärts in den Stollen schritt, in dem ich jedes Mal sofort von einer erstickenden, undurchdringlichen Konsistenz umgeben war, in der ich wie in einem Brei zu rudern begann. Wieder im Freien blickte ich dankbar zu den Sternen auf, die genug Licht spendeten, um am Leben zu bleiben. Zu dieser Zeit hatte ich die Mondphasen noch nicht so genau beachtet, obwohl ich ihren Einfluss auf mich zu spüren begann. Es musste Neumond gewesen sein, obwohl die meisten meiner Abenteuer in den folgenden Jahren zu Vollmond stattfanden. Nie wieder wollte ich so einem gefährlichen Schwarzmond von Angst gepeinigt, verloren in der grausamen Natur, ausgeliefert sein.

      Aber irgendwann wusste ich, dass ich keine andere Möglichkeit mehr hatte, als in den Bergtunnel zu gehen, weil ich nicht von meinen inneren Dämonen unterjocht werden wollte. Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern, in dem Auto meines Vaters je durch einen Tunnel am Weg nach Hinterwildalpen gefahren zu sein. Diesem Umstand verdankte ich eine stetig anwachsende Panik. Diese Straße schien verhext zu sein. Die weiche, stockdunkle Masse umfing mich fast augenblicklich und nach wenigen Metern kämpfte ich nur mehr gegen den Impuls an, einfach unkontrolliert loszuschreien. Ich drehte mich um und wusste im selben Augenblick, dass ich diesen Fehler nicht noch einmal wiederholen durfte. Für diesmal war es allerdings zu spät. Hinter mir befand sich ein stecknadelkopfgroßes Licht. Das war der Eingang zur Hölle, die ich unbefugt betreten hatte. Starr vor Angst betastete ich die eine Felswand. Sie war glatt, nasskalt und scharfkantig. Ich zog die Finger weg, als hätte ich mich verbrannt. Zu geschockt, um unter Tränen zusammen zu brechen, setzte ich meinen Nerven aufreibenden Gang fort und jetzt war es wirklich absolut finster. So dunkel, wie es vielleicht einmal im Mutterleib gewesen sein mochte, oder in völliger Abgeschiedenheit der Erblindung. So leicht verliert man die Orientierung und das