meinte Marie mit entschuldigendem Schulterzucken. »Aber ich habe im Moment keine andere Wahl, ich muss ja Geld verdienen!«
Schon wieder dieses komische Bauchgefühl. Marie schob es darauf, dass sie vielleicht zu viel Kuchen gegessen hatte.
Minnie nickte verstehend und meinte: »Ich mag das Gewühl in der Stadt auch nicht so besonders, irgendwann sind mir die Menschen fremd geworden. Ich bin kein Menschenfeind, nein, ganz und gar nicht, aber mir sind die Menschen zu kompliziert geworden. Mir kommt es auch so vor, als würde es immer mehr Oberflächliche geben. Aber vielleicht täusche ich mich. Viele sagen doch gar nicht, was sie denken. Definieren sich über Geld und Macht und verlieren dabei ihr eigenes Ich, ohne es überhaupt zu bemerken. Da es von dieser Art viele gibt, befinden sie sich in bester Gesellschaft. Irgendwann war es für mich fast unerträglich und ich entschied mich, in und mit der Natur zu leben. Ja, nun bin ich schon seit über dreißig Jahren hier, mein Kind. Hier werde ich auf meine alten Tage auch bleiben!«
Minnie hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht und doch lächelte sie leicht, während sie sprach.
Marie war verblüfft. So hatte sie noch niemals jemanden reden hören. Es klang so ehrlich. Marie ahnte, dass auch in Minnies Leben wohl nicht immer alles so einfach war. Dabei klang es überhaupt nicht verbittert. Außerdem sprach diese Frau mit ihr, als wenn sie ganz normal wäre. Minnie schien sie ernst zu nehmen. Das war für Marie ein neues Gefühl. Sie fing an, die Frau zu mögen, was ihr eigentlich Angst machte. Es war nicht gut, jemanden zu mögen.
Verdammt Marie, lass das bloß sein. Immer wenn du jemanden gern hattest, wurdest du nach Strich und Faden verarscht. Oder man hat dir richtig wehgetan. Marie wusste nicht mehr, wie Vertrauen funktionierte. Sie versuchte, sich mit aller Macht gegen dieses Gefühl zu wehren. Sie könnte Minnie ja nett finden, aber bloß keine Gefühle investieren.
»Minnie, ich möchte Sie etwas fragen. Woher wussten Sie, dass ich in der Stadt Mut brauchte? Ich hatte nun schon öfter das Gefühl, dass Sie etwas wissen, was eigentlich gar nicht sein kann. Aber vielleicht spinne ich auch wieder.«
Minnie lächelte und sagte: »Nein mein Kind, du spinnst überhaupt nicht! In meinem Alter weiß man manche Dinge einfach so. In gewisser Weise kann ich es vielleicht erfühlen oder sehen. Weißt du, mein Leben hier draußen und auch meine vorherigen Erfahrungen haben mich viel gelehrt. Besonders auch über die Menschen. Was ich bei dir sehe, du bist ein hübsches und sehr liebenswertes Mädchen. Ich weiß, dass dir Menschen sehr wehgetan haben. Sei dir sicher, du bist keine Spinnerin!«
Marie war sprachlos und sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Woher wusste diese Frau von ihrem Schmerz? Sah man ihr das wirklich an? Wieso waren daheim alle so grausam gewesen? Wieso war hier alles anders? Sie war den Tränen nahe, weil noch nie jemand so nette Worte zu ihr gesagt hatte. Ihr Vater, ja, der hatte es ihr mal zugeflüstert. Doch das war lange her. Sie war verwirrt, da sie einerseits das unbändige Verlangen hatte, einmal alles zu erzählen, und gleichzeitig war da die unglaubliche Angst. Angst, doch wieder verhöhnt zu werden. Angst davor, die eigenen Gefühle nicht ertragen zu können. Minnie strahlte so viel Ruhe und Frieden aus, bestimmt war sie total lieb und doch traute sich Marie nicht, über ihren Schmerz zu sprechen. Mehr als ein schlichtes Danke kam nicht über ihre Lippen. So saßen sie einfach noch eine Weile dort und genossen die Stille, während Marie versuchte, Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen.
Nach einiger Zeit stand Minnie auf.
»Marie, gutes Kind, ich muss mich noch ein wenig um meine Kräuter kümmern. Wenn du magst, kommst du einfach nach hinten. Habe keine Scheu, du störst mich nicht. Ruhe habe ich hier doch immerzu.«
Im Vorbeigehen strich sie Marie kurz über die Wange. Minnie spürte, wie die junge Frau leicht zusammenzuckte, was sie nicht erstaunte. Maries ganze Körpersprache verriet viel. Obwohl sie anmutig und leichtfüßig lief, wirkte sie wie ein scheues Reh. Jederzeit zum Sprung bereit. Während Minnie dabei war, ihre Kräuter zu gießen, überlegte sie, ob es möglich sein würde, Marie zu helfen. Ihr zu zeigen, dass nicht alle Menschen gleich sind. Irgendwann bemerkte sie, dass die junge Frau sie beobachtete.
»Komm gerne her. Wenn du möchtest, zeige ich dir meine Kräuter.«
Marie kam langsam, fast zögernd, näher.
»Morgen werde ich welche ernten, ich verkaufe sie hier in der Umgebung auf dem Markt. Schau, das hier ist Salbei, daneben wächst der Baldrian. Hier ist Blutwurz, eine wunderbare Heilpflanze. Dort vorn beginnt schon das Johanniskraut zu blühen. Petersilie, Dill, Majoran und weitere Küchenkräuter. Der große Strauch dort hinten ist Zitronenmelisse. Sie riecht so schön. Komm, lass uns mal hingehen.«
Marie tat es Minnie gleich und schnupperte an den Blättern der Pflanze. Wirklich angenehm. Wofür diese wohl gut sein mag?
Minnie erzählte weiter: »Man kann sie bei Asthma sowie bei Problemen mit Magen und Darm einsetzen, aber auch fürs Herz ist sie gut. Auf dem Markt geht sie weg wie warme Semmeln und die Apotheke im Ort nimmt mir auch häufig Kräuter ab. Sie verarbeiten diese zu Teeaufgüssen.«
»Oh, das ist ja schön«, meinte Marie. »Lebst du denn nur vom Kräuterverkauf und von der Zimmervermietung?«
Marie wurde etwas rot, als sie bemerkte, dass sie die Frau geduzt hatte.
»Ja, Marie, ich lebe nur von diesen Einkünften, aber ich brauche ja nicht viel. Ich baue mein Gemüse an und Brot backe ich ebenfalls selbst. Beim alten Kurt, ein Bauer hier in der Gegend, bekomme ich hin und wieder mein Fleisch und er erhält dafür Kräuter und selbst gemachten Kuchen. Das funktioniert ganz gut. Nur mein Haus macht mir etwas Sorgen. Es müsste mal wieder renoviert werden und das Dach sollte ausgebessert werden. Aber, kommt Zeit, kommt Rat, sage ich immer. Marie, ich fände es schön, wenn du mich duzen würdest.«
Dabei zwinkerte sie Marie schelmisch zu.
»Minnie, ich möchte mich für vorhin entschuldigen. Ich glaube, ich habe etwas blöd reagiert, als du … also, als du mir so über … über die Wange gestreichelt hast.« Mist, warum muss ich jetzt stottern? Marie ärgerte sich über ihre Reaktion. »Es ist nicht so, dass ich es nicht mag oder so, es hat nichts mit dir zu tun. Nimm es bitte nicht persönlich. Ja?«
Verlegen schaute sie in die Ferne, wohlwissend, dass sie dadurch abweisend wirkte. Marie wollte nicht verletzen, aber sie hatte sich so sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen, dass es ihr schwerfiel zwischenmenschliche Beziehungen zuzulassen. Dabei mochte sie diese mütterlich wirkende Frau. Bei ihr fühlte es sich irgendwie so an, als könnte man ihr tatsächlich vertrauen. Marie drehte sich zu Minnie um und sah, wie diese sie liebevoll anlächelte.
»Kindchen, mach dir keine Gedanken darum. Ich nehme es dir weder übel noch habe ich es persönlich genommen. Ich denke, du bist es nicht gewöhnt, so berührt zu werden und dass es auch eine schöne Art der Berührung geben kann.«
Marie schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Minnie akzeptiere ihr Schweigen. Dunkle Wolken zogen auf.
»Komm Marie, lass uns ins Haus gehen, es scheint ein Gewitter auf uns zuzukommen, außerdem möchte ich das Abendessen vorbereiten.«
Etwas später saßen sie in der Stube am Tisch und aßen Hühnerfrikassee. Es schmeckte köstlich. Stumm lauschten sie dabei dem kurzen Gewitter. Anschließend in ihrem Zimmer, sah sie noch etwas fern. Als Marie im Bett lag, dachte sie an ihre neue Arbeit. Sie spürte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Marie versuchte, die Aufregung, die die Regie übernehmen wollte, beiseitezuschieben. Doch die Müdigkeit gewann und sie schlief kurz darauf ein.
Das Wochenende verbrachte sie viel in der Natur. Marie saß stundenlang unter dem wunderschön blühenden Kirschbaum und hing ihren Gedanken nach. Grüblerische wechselten sich mit Hoffnungsvollen ab. Am Sonntagnachmittag brachte sie Minnie einen großen Strauß wild gewachsener Blumen mit. Marie wollte ihr damit eine kleine Freude machen und sich bei Minnie für ihre Freundlichkeit bedanken.
Ein Strahlen huschte über das Gesicht der alten Frau.
Gerührt schaute