Malte Kersten
Nach dem Eis
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Aus dem Nichts, traumlos. Ich erwachte am Ende der Welt. Die übliche Beschreibung für Ushuaia, Feuerland. Glucksende Heizkörper hatten mich aufgeschreckt. Benommen sprang ich auf, das Fensterbrett gab Halt. Ich sah auf die Avenida San Martin hinab. Ein kleines Hotel, gebucht im Internet. Kein Luxus, aber zentral gelegen am Hafen. Von Backpackern oft aufgesucht, hatte ich an den Bewertungen gesehen. Wer käme sonst nach Ushuaia? Ein Bett, ein Schrank, ein Nachttisch und ein Stuhl. Das war alles. Kein historisches Flair. Aber Ausland. Und Südamerika. Meine vollgepackte Tasche neben dem Bett. Daneben mein Kamerakoffer, gefüllt mit zwei Kameras und allen Objektiven, Filtern und sonstigen Dingen, die ich unterwegs vielleicht brauchen könnte. Bei richtig arktischen Temperaturen ist digital nicht Fortschritt. Hatte ich beim Packen vermutet und zusätzlich meine selten benutzte analoge Kamera sowie etliche Filmrollen im Koffer verstaut.
Es wurde bald hell. Drei- oder viergeschossige Gebäude. Unten Geschäfte, oben vielleicht Wohnungen. Alles eingetaucht in das gelbliche Licht der Straßenlaternen, zumindest die unteren Teile der Gebäude. Darüber ließ sich in der Dämmerung eine unglaublich weite Berglandschaft erahnen. Während der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel hatte ich in der Dunkelheit von den Bergen gar nichts, von der Stadt nur sehr wenig gesehen. Mein erster Kontakt zum Tango. Der Taxifahrer spielte mir eine lokale Größe dieser Musikrichtung vor. Jedenfalls mein Eindruck, mein Spanisch ist nicht perfekt. Seine Begeisterung war es. Die Heiligenfigur tänzelte neben den Fußbällen am Innenspiegel.
Unten schloss jemand ein Geschäft auf. Es war sehr warm im Zimmer. Ich öffnete das Fenster und atmete die kühle Luft ein. Es roch nach fremder Stadt, sogar nach fremden Erdteil. Windstill, zumindest jetzt in der Morgendämmerung. Scheppernde Geräusche einer Mülltonne. Der, der sein Geschäft aufschloss, rief jemanden ein paar Worte zu. Ein Auto fuhr vorbei. In der Ferne bellte ein Hund. Jemand lachte, wieder spanische Worte. Eine erwachende Stadt am Ende der Welt. Ich freute mich auf einen südamerikanischen Kaffee. Kaltes Wasser über den Kopf vertrieb einigermaßen meine Müdigkeit. Die Dusche musste noch warten, nach dem Kaffee. Aber ein frisches T-Shirt musste her. Einen Teil meiner Polarkleidung zog ich dabei mit aus der eng gestopften Tasche. Ich ließ alles so liegen und versuchte, den Zimmerschlüssel mit dem unhandlichen Anhänger in die Hosentasche zu stopfen. Der Flur war noch dunkel, das Licht funktionierte nicht. Am Abend hatte es funktioniert, da war ich mir sicher. Wahrscheinlich fand ich nicht den richtigen Schalter. Die Treppe als heller Fleck am Ende des Flurs. Wie spät war es eigentlich? Ein paar schwarz-weiß Bilder von indianischen Ureinwohnern waren trotz des Dämmerlichtes zu erkennen. Historisch sicher interessant, aber vom Bildaufbau eher langweilig. Unten war es ruhig. Kein Mensch war zu sehen. Weiter hinten hörte ich Geschirrgeklapper. Ich ging dem Geräusch nach und fand eine Frau, die Geschirr auf eine Anrichte stapelte. Schneidende Töne in der morgendlichen Ruhe. Spanisch, Englisch? Ich entschied mich für Englisch und fragte, ob ich einen Kaffee haben könnte. Ihre Gegenfrage verstand ich nicht. Spanisch. Ein Gesicht ohne Lächeln.
„Si“, ich nickte und hoffte auf ein Frühstück.
Sie verschwand, ohne weiter nachzufragen. Ich war der einzige Gast, zumindest zu dieser Uhrzeit. Auf der Straße war es noch sehr ruhig. Ich hatte den ganzen Tag Zeit. Zeit, um nichts zu tun. Zeit, um die Stadt zu erkunden. Zum Kaffee trinken. Und zum Fotografieren. Ich würde alles zusammen tun. Ich hätte mir doch noch mehr überziehen sollen. Etwas kühl war es im Frühstücksraum. Verglichen mit meinem Abflugsort sollten hier sommerliche Temperaturen herrschen, war es doch hier auf der Südhalbkugel immer noch Sommer. Glücklich entronnen, könnte man sagen. Es war nur wenige Tage her, aber mein Leben hatte eine vollständig neue Richtung bekommen.
Ihr Kommen kündigte sich mit dem Flip und Flop ihrer Flipflops an, bevor sie im Raum zu sehen war. Die Frau kam mit einem kleinen Tablett zurück. Sie brachte eine Tasse Kaffee und ein Körbchen mit ein paar Hörnchen. Das war ihre Frage gewesen. Sie schob den Serviettenhalter zur Seite und stellte alles wortlos bei mir am Tisch ab. Der Kaffee duftete fremd. Ihre Flipflops waren noch zu hören, als sie schon nicht mehr zu sehen war. Der Kaffee war heiß, die Hörnchen sehr süß. Erst knackte es, dann war leise Musik zu hören, Tango. Extra für den Gringo. Draußen hinter dem Parkplatz, hinter den Häusern, auf den entfernten Bergen hinter der Stadt begannen die schneebedeckten Gipfel in der aufgehenden Sonne zu glimmen.
Zufrieden. Als mein Becher leer war, war das Licht schon ein ganzes Stück den Berg herabgetropft. Aber das Schauspiel war noch nicht zu Ende. Ich sah mich nach der Frau um, konnte sie aber nicht entdecken. Mit dem Becher in der Hand unterbrach ich kurz meine Naturbetrachtung und machte mich auf die Suche nach einem weiteren