Die Stimme seiner Mutter hatte er gehört. Im Traum konnte er sie immer hören. „Pedro – nein! Nein, sie sind böse! Das ist das BÖSE!“, hatte sie ihm zugerufen.
Verwirrt rieb Pedro sich die Augen und sah sich um. Er lag auf der Aussichtsplattform in dem höchsten Baum der Siedlung. Oh nein! Er setzte sich auf. Wieder einmal war er während seiner Wache eingeschlafen. Das würde Ärger geben. Mister Dare würde ihn gehörig ausschimpfen und er würde kein Abendessen bekommen, wenn das herauskam. Dabei hatte er doch jetzt schon solchen Hunger.
Eigentlich hatte Pedro ständig Hunger. Seine Mutter staunte immer nur, was in seinen elfjährigen Körper so alles rein passte. Sie ging dann manchmal lachend um ihn herum und suchte nach einem nicht vorhandenen Loch in seinem Bauch.
Vorsichtig richtete Pedro sich auf und lugte über die Holzwand der Plattform. Er sah auf das Dorf hinunter. Nichts rührte sich dort. Alles lag wie ausgestorben da. Wo waren die denn alle? Normalerweise herrschte auf dem Dorfplatz reges Treiben, aber nun sah er niemanden dort.
Pedro stand auf und rieb sich erneut die Augen, denn er glaubte nicht, was er jetzt sah. Er hatte sich einmal um sich selbst gedreht und schaute nun in Richtung des nahen Strandes.
Die Männer, Frauen und Kinder des kleinen Dorfs waren zu erkennen. Sie liefen zum Strand und gingen durch die sachten Wellen ins Wasser. Was taten die da? Pedro schüttelte den Kopf.
Als immer mehr von den Bewohnern der Siedlung unter Wasser verschwanden und er sie nicht mehr auftauchen sah, bekam Pedro Angst. Zitternd griff er nach dem Seil der Alarmglocke und begann daran zu ziehen. Wild schleuderte der Glockenschlegel hin und her. - Das mussten sie doch hören. Aber keiner wandte sich um. Alle gingen sie weiter in das Wasser hinein und versanken darin. - Nur der Pfarrer der kleinen Gemeinde, der mit eilenden Schritten als letzter die Wasserlinie erreichte, drehte sich kurz zu ihm um. Seinen großen Hut hatte er verloren, aber er kümmerte sich nicht darum.
Pedro fröstelte, als er den Blick des Geistlichen sah. Der Reverend hatte normalerweise strenge Gesichtszüge, aber nun hatte sich sein Gesicht zu einem so glückseligen Strahlen verzerrt, als würde er höchste Lust empfinden. Und Pedro meinte Lust. Er hatte es oft genug beobachten können, was diese Lust mit den Gesichtern der Menschen tat. Zum Beispiel, wenn sich der Tischler heimlich in der Scheune des Dorfes mit der hübschen Ziegenhirtin traf. Er konnte sie zwar nicht hören, aber sehen konnte er gut.
Zögernd stieg nun auch der Reverend in die Fluten, wobei er vorsichtig seinen Talar lüpfte, wie eine Frau ihr Kleid.
Pedro läutete immer wilder - immer verzweifelter. Er zitterte am ganzen Körper. Was war nur los? Waren sie alle taub geworden, so wie er? Warum hörten sie die Glocke nicht?
Er sah den grauen Haarkranz des Reverends im Wasser verschwinden, während sein Talar sich um ihn herum aufbauschte wie eine riesige schwarze Qualle.
Panisch ließ Pedro seine Blicke über das Dorf und über den Strand fliegen. Alle waren in das Wasser gegangen und hatten ihn zurückgelassen. Mit zitternder Hand wischte er sich eine Träne aus dem Gesicht, aber so lange er auch Ausschau hielt: Das Meer zwischen der Insel und dem Damm lag glatt und ruhig da, so als sei nie etwas geschehen.
Pedro ließ den Glockenstrang los. Was war nur passiert? Er konnte es nicht verstehen. War das ein Traum? Nein! Alle hatten ihn verlassen. Er war allein.
01 ALICIA
Suchend schaute Diego sich um und stellte sich kurz auf die Zehenspitzen, um über die Umstehenden hinweg sehen zu können, aber Lana war nirgends zu entdecken. – Zu blöd, dass sie zusammen mit den anderen Erstsemestern heute Feuerwache hatte und nicht bei ihm sein konnte. Aber so war es nun mal Tradition hier in Berkeley. Die Freshmen mussten Holz schleppen, damit das große Feuer in der Mitte des Amphitheaters schön loderte.
Die ganze Arena des Greek-Theatres war in das rötliche Licht des großen Holzfeuers getaucht. Im Moment spielte gerade eine Rockband Nothing else matters, ein Stück, nach dem man schön langsam und eng hätte tanzen können. Das ganze Halbrund war bis hinauf zu den letzten Sitzreihen von den Klängen erfüllt. Nach Alicias grandiosem Auftritt musste es jede Band schwer haben, die Menschen mit ihrer Musik zu erreichen, aber die Jungs machten ihre Sache gut. Schon fanden die ersten Paare sich zusammen und begannen sich im Takt zu wiegen.
Noch einmal strich Diegos Blick über die Erstsemester, die hinter der Absperrung aus Flatterband immer neue Holzscheite zum Feuer schleppten. Lana war nirgends zu entdecken. – Vielleicht hatte sie es ja geschafft, sich in einen ruhigeren Winkel zurückzuziehen und dort ein wenig Pause zu machen. Nein, sie war wirklich nirgends zu sehen, aber gerade kam Alicia Moss über den Platz. Sie bemerkte Diegos suchenden Blick und lächelte ihn an. – Hoffentlich meinte sie jetzt nicht, dass er nach ihr Ausschau gehalten habe.
Natürlich tat sie das! Ein feines Lächeln zog sich über ihr Gesicht und bewirkte, dass Diego sie eine halbe Sekunde länger ansah, als er eigentlich vorgehabt hatte. Kurz tauchte ein Bild in seinem Kopf auf. Ein Traumbild aus der vergangenen Nacht.
Ruckartig wandte Diego sich ab, aber es war zu spät. Einen etwas zu langen Blick kann man ebenso wenig zurücknehmen, wie ein unbedacht ausgesprochenes Wort. – Dabei war es nur ein winziger Augenblick gewesen, genau diese halbe Sekunde, in der sich so viel entscheiden kann.
Diegos Gesicht verfinsterte sich. - Nein, hier hatte sich nichts entschieden. Alicia hatte Interesse an ihm, das war ein offenes Geheimnis.
Bei anderen Frauen war es Diego bislang immer gelungen, die nötige Distanz zu wahren, aber hier war es schwieriger. Immerhin war sie Mitarbeiterin der Firma, die das Studentenwohnheim betreute, und seit der letzten Nacht wusste er, dass sie sich nicht scheute, diese Position für ihre Zwecke auszunutzen.
Gestern Abend, als Lana, Biggy, Diego und Hercule zusammen im Kino gewesen waren, war Alicia in sein Zimmer eingedrungen und hatte sich zwischen seine Laken gelegt, da war er sich ganz sicher. Ein seltsam betörender Duft hatte der Wäsche angehaftet, und sogar einen winzigen Rest der Wärme ihres Körpers hatte er noch spüren können.
Ja, es war Alicia gewesen! Alicia, die sich bei jeder Gelegenheit in seiner Nähe aufhielt, seit er hier in Berkeley war. Diego hatte ihren Duft erkannt. Sicherlich hatte sie eine Möglichkeit gefunden, über Nacht einen Generalschlüssel für das Wohnheim mitzunehmen. Schließlich arbeitete sie für die Hausverwaltung, und wenn sie am Abend so ganz aus Versehen einen anderen Schlüssel in den Tresor gehängt hatte, würde das kaum aufgefallen sein.
Zuerst war Diego von dem Gedanken leicht amüsiert gewesen, dass die Kleine hier so eine Art Liebeszauber abziehen wollte. Dass sie einfach so in das Zimmer eingedrungen war, behagte ihm allerdings überhaupt nicht. Wenn das alles auch ziemlich blöd und lästig war, ein wenig geschmeichelt hatte er sich schon gefühlt. Er hatte sogar von ihr geträumt, und es waren keine unschuldigen Träume gewesen, in denen man einfach irgendwas Belangloses zusammen erlebt. Da war schon mehr gewesen, und nichts davon hätte er Lana erzählen wollen. Noch schlimmer war, dass er die Bilder nicht los wurde. Sinnliche Bilder von gebräunter Haut und einem anschmiegsamen Leib, der sich an seinen Körper drängte.
Diego war sich ganz sicher, dass er kein Interesse an Alicia hatte, also mussten diese verwirrenden Bilder einen anderen Grund haben, und Diego wusste auch welchen: Trotz ihres englisch anmutenden Namens war Alicia Moss auf einer griechischen Insel aufgewachsen, und es hieß, dass ihr Vater ein Prätorianer war. Dass sie auch das Erbe dieser Seewesen in sich trug, erklärte so Einiges: Alicia stammte in direkter Linie von den Sirenen ab, die mit ihrem magischen Gesang schon Odysseus ins Verderben hatten locken wollen. Niemals durfte man die Macht dieser Frauen unterschätzen.
Alicia drängte sich zwischen Daryl und Stavros hindurch und stellte sich ganz selbstverständlich neben Diego. „Na, hat mein Lied dir gefallen?“, fragte sie ihn direkt. „Ich habe es nur für dich gesungen.“
Es