Gefangen. Sabine Genau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Genau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000825
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war das diesmal nicht. Der Mann war ganz offensichtlich mutiger als ich und versuchte sofort und ohne zu zögern, die Tür zu öffnen. Mein Herz raste schon wieder wie wild, als würde es gleich explodieren, doch vergebens, die Tür war verschlossen. So beruhigte sich mein Herzschlag relativ schnell wieder. „Hast du hier noch eine andere Tür entdecken können?“ fragte mich der Mann. „Nein, nur die Badezimmertür, sonst gibt es hier nichts als steinerne Wände, nicht mal ein Fenster.“ Sein Blick wurde irgendwie leer, als er sagte: „Dann sind wir hier eingesperrt.“ Mit Entsetzen wurde mir klar, dass er Recht hatte. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Eingesperrt, dieses Wort hatte einen so grauenhaften Klang, dass ich es in meinen Gedanken noch nicht formuliert hatte. Jetzt hatte er es ausgesprochen und mir blieb nichts anderes übrig als zu realisieren, dass es die bittere, erschreckende Wahrheit war.

      Gemeinsame Gefangenschaft

      Wir gingen zurück zum Bett, setzten uns und schwiegen. Aber ich wusste genau, dass er die gleichen Gedanken hatte wie ich: warum hat man uns hier eingesperrt, gerade uns beide, zwei einander völlig fremde Menschen? Wie sind wir hierher gekommen? Wer hält uns gefangen? Wie um Himmels Willen kommen wir hier bloß jemals wieder raus? Eine Träne lief über mein Gesicht, der Mann bemerkte das sofort und nahm mich tröstend in den Arm. Ja tröstend, seine Umarmung konnte mich tatsächlich trösten, trotz der ausweglosen Situation, in der wir uns befanden, immerhin befanden wir uns beide in derselben Lage und konnten uns gegenseitig stützen. Das tat unendlich gut. Ich hätte weinen und schluchzen wollen, denn ich hatte große Angst, aber in seiner Umarmung wurde ich seltsam ruhig. Was für ein Segen, dass ich hier nicht alleine war, dass gerade er es war, der mit mir hierher geraten war. In fester Umarmung saßen wir eine Weile einfach so da, er hielt mich, ich fühlte mich für einige Momente lang geborgen. „Kannst du dich daran erinnern wie du bewusstlos geworden bist, oder was vorher war?“ fragte ich ihn. Die bohrenden Fragen ließen mich in keinem Augenblick los. „Nein, mein Kopf ist total leer.“ Wir rückten weiter auf das Bett und legten uns nebeneinander hin. Er hielt mich immer noch fest. Bis wir wieder einschliefen.

      Als ich nach einem unnatürlich tiefen, traumlosen Schlaf aufwachte, wusste ich erst zunächst wieder nicht, wo ich war. Diesmal jedoch genügte ein kurzer Blick auf den fremden Mann neben mir, und die ganze missliche Situation kam mir wieder ins Gedächtnis. Der Mann hielt mich noch immer im Arm. Irgendwie sehnte ich mich nach dem Wunsch, ewig so liegen zu bleiben. Ich wollte mich diesen verwirrenden Umständen nicht stellen, da ich ja sowieso nichts tun konnte gegen meine erbärmliche und aussichtslose Lage. So hätte ich mich doch einfach an ihn kuscheln, alles vergessen und weiterschlafen können. Sein Körper war so warm, gab mir eine vermeintliche Geborgenheit. Ich entschloss mich dann aber doch, lieber vernünftig zu sein, und wollte mich anstrengen, meine Lage etwas besser zu erfassen. Die Fragen bohrten und arbeiteten weiter in meinem Kopf, ließen mir ja doch keine Ruhe. Ich wollte so gerne verstehen. Unbedingt musste ich versuchen, mich daran zu erinnern, was geschehen war, bevor ich bewusstlos geworden war. Ich wollte erfassen, was zu diesem Zeitpunkt vor sich gegangen war, vielleicht konnte ich dann auch begreifen, was jetzt geschah.

      Also fing ich an, intensiv in meinen Erinnerungen zu stöbern. Ja richtig, schoss es mir durch den Kopf, ich hatte ein Seminar besuchen wollen. Ganz plötzlich fiel mir das jetzt wieder ein. Es war mir deshalb gerade in diesem Augenblick eingefallen, weil ich plötzlich meinen gepackten Koffer hinter dem Bett entdeckte. Beziehungsweise standen dort zwei Koffer. Es lag nahe, dass der zweite wohl dem Mann gehören musste. Ich erinnerte mich jetzt auch ganz genau daran, wie ich den Koffer gepackt hatte. Nur wenige Sachen für ein Wochenend-Seminar hatte ich eingepackt. Ich war dabei guter Dinge gewesen, denn ich hatte mich auf das bevorstehende Seminar gefreut. Ich würde interessante neue Dinge lernen und nette Leute treffen, das waren meine Gedanken beim Packen gewesen. Des Weiteren erinnerte ich mich nun daran, dass ich mit dem Auto gefahren war, eine gute Stunde war ich unterwegs gewesen. Ich dachte an die gut gelaunte Autofahrt, ich hatte laute Musik gehört und eine nette Anhalterin ein Stück mitgenommen.

      „Wo bin ich?“ hörte ich den Mann wieder sagen. Ich drehte mich zu ihm um. Er sah mich an, wieder faszinierten mich seine schönen warmen braunen Augen, ich konnte sehen, dass er mich jetzt erkannte und ebenso wie ich vorher der ganzen unerklecklichen Situation wieder gewahr wurde. „Ich habe mich jetzt erinnert, dass ich ein Seminar besuchen wollte.“ teilte ich ihm ganz aufgeregt mit. Sofort richtete er sich auf und begann wieder angestrengt nachzudenken. Ich zeigte auf die beiden Koffer, die hinter dem Bett standen und konnte deutlich an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass auch er sich nun erinnerte. „Ja.“ sagte er. „Auch ich wollte zu einem Seminar fahren.“ Wir sahen uns an und freuten uns, als hätten wir mühevoll eine alte gemeinsame Erinnerung erobert. Zum ersten Mal lächelten wir uns an. Wie ein kleiner Sieg fühlte sich das an. In dieser Situation war man bescheiden geworden. Machtlos wie wir uns fühlten, war schon dieser kleine Schritt in Richtung Aufklärung der Umstände, wie wir in diesem Moment glaubten, eine Genugtuung gegenüber denen, die die Macht über uns hatten.

      Annäherung an einen Fremden

      Dieser Mann gefiel mir immer besser. Ich spürte eine seltsame Zuneigung, wenn ich ihn ansah. Fast war er mir schon vertraut, ich hatte mich irgendwie bereits an seine ständige Anwesenheit gewöhnt. So etwas wie ein Gefühl der Kumpanei stellte sich zwischen uns ein, allein durch unser gemeinsames Schicksal. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass zwischen zwei völlig fremden Menschen innerhalb so kurzer Zeit so eine Art von tiefer Vertrautheit aufkommen könnte, ich war normalerweise eher zurückhaltend gegenüber anderen, allerdings war ich ja auch vorher noch niemals in einer solch außergewöhnlichen Situation gewesen. Wenn man so etwas nicht selbst erlebt, kann man sich das wohl gar nicht vorstellen. So was stellt sich ja auch niemand vor, wer würde denn denken, dass er jemals in eine solche Lage kommen könnte?

      Der Mann lächelte noch immer. Er sah aus, als versuche er zu erraten, was ich denke. „Erzähl mir von dem Seminar, das du besuchen wolltest.“ sagte er. Wir stellten jetzt schnell fest, dass wir dasselbe Seminar hatten besuchen wollen, und auch Zimmer im gleichen Hotel gebucht hatten. In unseren Zimmern waren wir jedoch beide nicht angekommen, so viel zumindest wussten wir nun. Langsam tasteten wir uns gemeinsam an die letzte Erinnerung vor der Bewusstlosigkeit heran. Das gestaltete sich schwierig, denn wir waren beide noch immer etwas benommen und unsere Erinnerungen entsprechend nebulös. Sie endeten schließlich in der Tiefgarage des Hotels. Immerhin war es zu zweit leichter, den Pfad der Erinnerungen zurückzuverfolgen, da dem Zuhörenden meist ein neues Bruchstück einfiel, wenn einer von uns beiden erzählte, an was er sich selbst erinnern konnte. So kamen wir peu à peu einem Gesamtbild der Geschehnisse ein bisschen näher. Ganz klar wurde uns die Geschichte dadurch aber leider auch nicht. Von einer Erklärung für die Ereignisse, die uns zusammen hierher gebracht hatten, waren wir unerreichbar weit entfernt. Nichts in unseren Erinnerungen konnte uns auch nur die Spur einer Erhellung des Geschehenen einbringen.

      Ich beobachtete ihn, während er mir von seinen Seminarvorbereitungen, seiner Autofahrt, seiner Ankunft im Hotel erzählte. Ich hatte Glück, dachte ich bei mir, ebenso hätte ich hier mit einem ganz fürchterlichen Menschen eingesperrt sein können, der mich ängstigt, anstatt mich zu beruhigen, wie er. Ein anderer Mann hätte vielleicht die Situation ausgenutzt, mich vergewaltigt oder mir sonst was angetan, die Möglichkeit der Machtausübung war ihm hier ja durchaus gegeben. Er war mir an körperlicher Kraft überlegen und es gab weder eine Fluchtmöglichkeit, noch war weit und breit jemand, der mir hätte helfen können. Ich hatte mit ihm wirklich Glück im Unglück gehabt. Ich sah ihn an und er wirkte so sympathisch auf mich, so ausgleichend und beruhigend, er half mir allein durch seine Art und Ausstrahlung, diese Situation zu ertragen, fast fühlte ich mich mit ihm zusammengeschweißt durch die gemeinsame Gefangenschaft. Zusammengeschweißt auf eine angenehme, vertraute Weise. Wir hatten etwas gemeinsam, was sonst kaum zwei Menschen auf der Welt teilen können. So etwas würde ja auch an und für sich niemand teilen wollen, aber da es nun einmal so war, kam es mir durch seine Einzigartigkeit unendlich kostbar vor.

      Dieses gemeinsame Schicksal nahm uns jede Fremdheit, obwohl wir uns doch erst seit ein paar Stunden kannten, wenn hier von kennen überhaupt die Rede sein konnte. Wir wussten gar nichts