Auf der Nachbarbank saß ein Mann, der sich mit zwei Tauben unterhielt. Irgendwann brüllte er sie an, fluchte, schimpfte, tobte und ließ die zwei verdutzten Frauen schließlich alleine zurück. Zornig stob er über die Uferwiesen hinweg, trat dabei auf einen Berliner, der die Sonne genoss und sich böse bei ihm beschwerte, doch ließ ihn das völlig unbekümmert. Berta beobachtete das Schauspiel und schüttelte lediglich den Kopf.
Endlich hatte das Warten ein Ende. Sie erhob sich und spazierte in Richtung des kleinen unscheinbaren Etablissements am Flussufer. Sie stieß die Tür auf und legte, wie üblich, das Geld schon im Voraus auf die Theke. Der ältere Herr mit Goldkette und leicht fettigen Haaren grinste.
„Was magst du heute für einen?“
Berta hob eine Augenbraue.
„Einen braunen…“, sagte sie bestimmt.
„Kein Ding, ich lasse ihn kommen.“
Er schellte. Es dauerte keine zehn Sekunden, und eine Tür öffnete sich. Ein großgewachsener, sportlicher junger Mann, ein Afroamerikaner, erschien, der Berta zu sich bat. Sie schlug kurz die Augenlider zu, fuhr sich mit der Zunge über die rotbemalten Lippen und folgte ihm fast willenlos in den angrenzenden Raum. Er half ihr aus dem Blazer und wies ihr das große Sofa zu, das in der Mitte des Raumes vor einem kleinen Tisch nur ihres drallen Körpers harrte. Sie setzte sich. Er stellte sich vor sie. Berta konnte die Gravur seiner Gürtelschnalle lesen, seinen männlichen Duft riechen, das edle Parfüm. Er sah streng zu ihr hinab; sie sah schmachtend zu ihm hinauf, dann auf seine gepflegten Hände, die sich halb in den Hosentaschen vergruben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie kochte. Sie wusste, dass er wartete, dass er auf sie wartete. Und sie wollte es. Sie wollte es jetzt. Sofort. Er nahm die Hände aus den Taschen, schob die Daumen hinter den Gürtel und strich mit den Fingern über die Gürtelschnalle und den Reißverschluss. Dann fragte er: „Mit Zuckerguss oder Schokolade?“
„Zuckergussss…“, zischte Berta.
Er nickte, wandte sich um und holte Berta endlich ihren Amerikaner, den sie sich jeden Mittwoch nach ihrem Gang zum Fluss gönnte wie die anderen bedürftigen Frauen reiferen Alters, die den Raum bevölkerten und sich von jungen knackigen Kellnern bedienen ließen und auf diese Weise ihren Gelüsten frönten.
Sommerschwüle
Gemächlich stieg Martin aus dem Wagen und die Treppen hinab in die Bahnhofshalle. Außerhalb des Gebäudes grüßte ihn wieder die schwülwarme Sommerluft, von der er sich eine Stunde zuvor, als er in den Zug gestiegen war, verabschiedet hatte, allerdings lauerte sie an diesem Tag offenbar in jeder Stadt. Er hatte Zeit. Sein Vater würde erst in einer Stunde kommen, nach der Arbeit, um ihn abzuholen. Kurz überlegte er, ob er noch zum Bäcker gehen sollte oder direkt zum Fluss, wo er oft saß und las, wenn er warten musste, aber irgendwie schlugen ihm die unangenehmen Temperaturen auf den Magen, sodass er sich entschied, den Bäcker Bäcker sein zu lassen und den Weg Richtung Fluss zu nehmen, vorbei an den wenigen prächtigen Bürgerhäusern, die der letzte Krieg verschont hatte.
Das silberne Wasserband schimmerte schon von Weitem. Läufer begegneten ihm und Radler, die sich an der Hitze augenscheinlich nicht störten. Ältere Damen führten ihre Hunde aus. Einige Jungs in seinem Alter lagen meist mit ihren Freundinnen auf den Promenadenwiesen, sonnten sich oder genossen den Schatten. Enten schnatterten, watschelten über das Pflaster und verschwanden die Böschung hinab im kühlen Nass.
Martin wählte eine Bank im Schatten unter einer Pappel – es hätte sich auch um eine Ulme handeln können, so genau kannte er sich da nicht aus. Bäume schön zu finden ist eben etwas anderes, als sie zu bestimmen. Ihm war es ohnehin ziemlich egal, Hauptsache, die Pappelulme spendete Schatten. Er beobachtete das Treiben auf der Wiese, betrachtete den Fluss und die Schiffe, die sich hinaufschoben oder hinabglitten und das andere Ufer mit den bunten Häusern, die den steilen Hang zierten.
‚Wie am Mittelmeer‘, dachte Martin, um im Nachgang festzustellen, dass er dasselbe lediglich von Postkarten kannte. Blöder Gedanke also. Er schmunzelte, zog seinen Rucksack heran und kramte ein Buch hervor. Diese scheußliche Schwüle beeinträchtigte seinen Kreislauf. Er trank den vorletzten Schluck aus seiner Wasserflasche und hoffte, dass die Flauheit nach einer Weile im Schatten nachlassen würde. Die goldenen Zeiger der Kirchturmuhr gegenüber zeigten – welch Polyptoton, zeigende Zeiger! – kurz nach drei. Demzufolge verblieb ihm eine Dreiviertelstunde. Er würde zumindest versuchen zu lesen, wenngleich er von früher wusste, dass es ihm bei alldem, was um ihn herum geschah, schwer fiele. Nach jedem Absatz lugte er über die Buchkante zum Fluss, nach links, nach rechts, um zu schauen, ob nicht vielleicht jemand komme, den er kennt, doch es kam keiner. Von Ferne bemerkte er indes eine ältere Frau, die langsam auf die Bank, auf seine Bank, zusteuerte.
‚Bitte nicht, bitte geh weiter‘, betete Martin. Er hatte absolut nichts gegen Omas, sofern sie vorübergingen. Martin zählte hingegen zu ihren Lieblingsopfern, zumindest was Bushaltestellenomas anbelangte: Frauen in beige oder blasslila Farbtöne gekleidet, die aus heiterem Himmel Gespräche anfingen – stets mit ihm! Selbst wenn dort zwanzig, dreißig, vierzig Menschen standen: Die Anlaufstelle der Bushaltestellenomas hieß Martin, da gab es gar kein Vertun. Gleichermaßen gefürchtet waren die Promenadenomas und die, die dort kam, sah verdammt danach aus. Martin stierte verkrampft in sein Buch. Bloß nicht den Eindruck erwecken, als sei man ‚frei‘.
„Guten Tag“, surrte es aus einem lächelnden Mund.
Martin guckte auf.
„Hallo“, sagte er und versuchte dabei so viel Freundlichkeit in seine Stimme zu legen, wie in Anbetracht der Situation nur ging.
Die Alte strahlte und schlurfte weiter. Martin atmete erleichtert aus. Sie hatte sich nicht setzen wollen. Nachdem er ihr eine Weile hinterhergeschaut hatte – wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass sie nicht doch noch kehrt machte – wandte er sich erneut seinem Buch zu.
„Guten Tag“, klang es plötzlich tief neben ihm.
Er zuckte zusammen. Seine Augen glitten vom Buch auf den Boden, über weiße Seniorenschuhe, Beine in grauen Strumpfhosen, einen dunkelblauen, beinahe schwarzen Rock, über einen Blazer gleicher Farbe, der von einem runden, vollen Gesicht abgeschlossen wurde, unter dem der Hals versank. Hinter einer goldumrandeten Brille blitzten zwei ungewöhnlich wache, hellblaue Augen, die nicht recht zum Rest der Erscheinung passen wollten. Die ganze wurde von einem weißen Sommerhut mit blauem Band abgerundet, den es anscheinend zusammen mit der dunklen Handtasche geben hatte, die auf ihrem Schoß ruhte und deren Verschluss die zwei kleinen Hände in den weißen Handschuhen umklammerten, einem Kaninchen beim Männchen-machen ähnelnd.
„Hallo“, sprach Martin, als er seine Worte wiedergefunden hatte. Er hatte absolut keinen Schimmer, wo sie dermaßen abrupt hergekommen war. Wie aus dem Nichts! Und sie machte gar nicht den Eindruck einer typischen Promenadenoma mit ihrem Blau und dem Hut. Promenadenomas hatten keine Hüte und waren gefälligst dunkelgrau. Vermutlich existierten aber auch hier Untergattungen. Martin ließ sich nichts anmerken, konzentrierte sich auf sein Buch.
„Schön hier, nicht“, brummte es.
Er nickte und meinte für seine Verhältnisse unglaublich höflich: „Ja... sehr.“
Seine Augen klebten weiterhin auf den Seiten des Buches. Sie schwieg, ließ ihre Blicke schweifen, geradezu ängstlich die Tasche behütend.
„Ich bin häufig hier. Sie habe ich allerdings noch nie gesehen.“
Martin spürte, wie ihre Augen sich in ihn hineinbohrten. Er hasste dieses Gefühl, zu wissen, dass man angestarrt wird, obwohl sie ihn weder berührte und er sie nicht einmal starren sah und diese dröhnende Stille des Wartens auf eine Antwort seinerseits, wo sie eigentlich gar keine Frage gestellt hatte.
„Ich