Das Hupen der Autos und der Straßenlärm machten sie genauso perplex wie die Hitze, die schon über der Stadt lag, obwohl es erst 8 Uhr morgens war. Wartend stand Lia am Bahnhof von Toulon und fragte sich, wo die Leute bloß steckten, die sie hätten abholen sollen.
Die Reise war gut verlaufen, auch wenn sie im ratternden Zug kaum ein Auge zubekommen hatte und sich geschlaucht fühlte. Das lag aber vielleicht weniger an den Geräuschen des Zuges, sondern an ihren Mitreisenden. Ein Mann hatte so fürchterlich geschnarcht, dass sie den Versuch in Morpheus Arme zu fallen bald aufgegeben hatte. Vielleicht war es auch die Aufregung gewesen, die Lia um ihre nächtliche Ruhe gebracht hatte. Während sie dastand und wartete, ließ sie die verschiedenen Eindrücke ihrer neuen Umgebung auf sich wirken. Die hohen Fassaden der viktorianischen Gebäude umzingelten den Kreisverkehr vor dem Bahnhofsgebäude. Altmodische Straßenlaternen sollten einen an andere Epochen erinnern und passten gut zu den Gebäuden. Alles wirkte so ... französisch. Trotz ihrer Müdigkeit musste sie grinsen. Schmuddelige Häuserwände und Straßen, chaotisch geparkte Autos, Frauen, die in bunten, luftigen Kleidern daher liefen, und denen Jugendliche hinterherpfiffen. Ein Mann mit einem Baguette unter dem Arm huschte über die Straße, nicht etwa da, wo sich ein Zebrastreifen befand, nein. Er überquerte die Straße und zwang die Autofahrer zu verlangsamen, die wiederum hupend und schimpfend und mit obszönen Gesten antworteten. Eben der Süden, dachte Lia entzückt, so, wie sie sich ihn immer erträumt hatte. Die wenigen Zweifel, die immer wieder wie bittere Magensäure in ihr hochstiegen, versuchte sie zu verdrängen. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Jetzt war es eigentlich zu spät, um sich noch diese Frage zu stellen. Die Zeit der Zweifel war vorbei. Jetzt galt es ihren Traum in die Tat umzusetzen. Aus dem Seitenfach ihrer Handtasche lugte die famose Zeitung heraus, die Übeltäterin, die ihr die „Flausen“ ins Ausland gehen zu wollen in den Kopf gesetzt hatte. Mit den Fingerspitzen strich Lia über die Anzeige, fast dankbar, oder als hätte sie Angst, sie könne sich in Luft auflösen, wenn sie zu grob darüber fuhr. Aber die Anzeige blieb real. Weder stellte sie ein Hirngespinst dar, noch wurde das Papier, auf der sie geschrieben stand, wie durch Geisterhand durchsichtig.
Wenn ich diese Stelle nicht antrete, dann wird es eine andere junge Frau tun, dachte Lia bestimmt. Es musste hunderte geben, die sich nach einer Gelegenheit wie dieser sehnten.
„Warum möchte eine Frau mit ihrer Qualifizierung unbedingt in einem Ferienclub arbeiten?“, hatte sie der Mann am anderen Ende der Leitung geradeheraus gefragt. Zuerst hatte sie seine Direktheit überrumpelt, und normalerweise hätte sie in diesem Augenblick gehemmt geschwiegen. Doch sie hatte ihren Mut zusammengenommen und ehrlich geantwortet. War es ihre Offenheit, die ihn letztendlich berührt hatte oder Mitleid oder gar Verständnis, als er sie zwei Tage später zurückgerufen hatte, um ihr die Zusage mitzuteilen?
Flynn Wendemeier. Ein typischer deutscher Name. Ob er auch nur ein Angestellter war? Nachdem, was sie verstanden hatte, kamen fast nur deutschsprachige Urlauber in den Club. Das war also der Grund, warum sie deutschsprachiges Personal brauchten.
Erneut las sie die Anzeige:
„Für unsere Ferienresidenz an der Côte d’Azur suchen wir eine/n deutschsprachige/n Mitarbeiter/in. Vertragsdauer: vom 01.04. – 31.08. Freie Kost und Logis.“
Nein, es gab keinen Zweifel: Sie wollte diesen Job! Unbedingt!
In der Ferne sah sie neben einem blauen Cabriolet einen großen Mann stehen, der mit den Armen fuchtelte. Meint er mich, fragte sich Lia und sah sich nach allen Seiten um. Der Mann lachte, nickte und winkte ihr zu, machte Zeichen mit der Hand, als wolle er sie auffordern, zu ihm hinüber zu kommen. Was bildete sich dieser Lackaffe eigentlich ein? Stolz hob sie das Kinn und schaute fort, doch ihr Herz machte einen Sprung. Alles war so fremd und doch so aufregend. Sie hatte geahnt, dass die Männer im Süden ein hitzigeres Temperament hatten, aber das war wohl doch etwas übertrieben. Nur weil der Mann ein super Cabriolet hatte und noch dazu blendend aussah, brauchte er nicht zu glauben, dass er sie so einfach kommandieren konnte. Sie schüttelte den Kopf. Naja, ein wenig geschmeichelt fühlte sie sich schon. Ihr wurde warm.
Plötzlich setzte sich der Schönling in Bewegung und kam zu allem Überfluss auch noch auf sie zu. Ein Schreck durchfuhr ihre Glieder. Sie fühlte sich absolut nicht in der Lage, sich von diesem Mann ansprechen zu lassen. Sein blendend weißes Lächeln und die hellblauen Augen, die ihr aus dem sonnengebräunten Gesicht entgegenblitzten, schienen sie auslachen zu wollen. Wie unverschämt war der denn?
„Bonjour, du bist Lia? Lia Hesse?“, fragte er mit einem starken französischen Akzent, der auf Lia wie eine sanfte Melodie wirkte. Lia nickte.
„Ich bin Flynn Wendemeier, aber alle nennen mich Flynn“, sagte er mit seinem breiten Lächeln. Lia lächelte schüchtern zurück.
„Hattest du eine angenehme Reise?“
„Ja, danke.“
Lia wollte nur noch in den Erdboden versinken.
Sie kam sich furchtbar dümmlich vor, hatte das Gefühl fünfzehn zu sein. Sie schluckte. Wie peinlich. Was würde er von ihr denken?
„Komm, die Karosse wartet schon, Gnädigste“, sagte er und vollführte eine übertriebene Handbewegung. Spott schien aus seinen Augen zu sprühen. Sollte es eine Anspielung darauf sein, dass sie auf sein Winken nicht reagiert hatte? Machte er sich etwa über sie lustig?
Sie nickte ihm zu, bemüht, nicht zu befangen zu wirken, packte den Griff ihres Trolleys und zog ihn hinter sich her, während sie ihrem neuen Vorgesetzten folgte. Verlegen blickte sie an ihrer von der Zugreise verknautschten Kleidung hinunter. Selbst für diese Jahreszeit war sie noch zu warm angezogen.
„Ich hoffe, du hast auch weniger warme Sachen dabei“, sagte Flynn, als hätte er ihre Gedanken erraten und lächelte freundlich.
„Ja, natürlich“, log Lia und ärgerte sich sofort, „in Deutschland ist es noch ziemlich frisch.“ Das war zumindest nicht gelogen.
„Sicher, das vergisst man manchmal, wenn man hier unten lebt“, sagte Flynn und schmunzelte.
„Du sprichst aber gut Deutsch“, rutschte es Lia heraus.
„Meine Mutter war Deutsche und mein Vater Franzose“, sagte Flynn, zwinkerte und lud ihren Koffer in den Kofferraum des Cabriolets, das dunkelblau in der Sonne blitzte. Lia musterte Flynn genauer. Er musste über Dreißig sein, hatte dunkles gewelltes Haar, das mit sonnengebleichten Strähnen durchzogen war und ein ebenmäßiges, leicht kantiges Gesicht. Seine Haut war tiefbraun. Er trug eine Bermuda aus Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und passende dunkelblaue Sneakers. Es waren seine Augen, die ihr am meisten imponierten. Durch seine Kleidung traten seine dunkelblauen Augen leuchtend hervor. Alles passend zum dunkelblauen Cabriolet, dachte Lia beeindruckt. Er kam ihr vor, wie ein Topmodell aus einer Modezeitschrift, oder einer Werbung für Ferien in Luxushotels an der Côte d’Azur.
„Ach so“, war alles, was Lia herausbrachte.
Flynn lachte nachsichtig, als er um das Auto herumging, um ihr die Tür aufzuhalten. Verblüfft über diese galante Geste folgte sie seiner Aufforderung und setzte sich auf den Beifahrersitz, wobei sie ihren Knöchel am unteren Rahmen der Karosserie anstieß. Es schmerzte höllisch, doch sie stieß nur kurz die Luft aus, hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. Erst als er die Wagentür geschlossen hatte und um das Vehikel herumlief, rieb Lia sich unauffällig das Fußgelenk und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Du musst dich unbedingt zusammenreißen, dachte sie, deine Tollpatschigkeit wird dich noch die Anstellung kosten. Zwar hatte sie noch nie sehr viel Selbstbewusstsein an den Tag gelegt, aber so unbeholfen, wie in den letzten fünf Minuten, hatte sie sich ihres Erachtens noch nie gezeigt. Das ärgerte sie. War es der Mann oder die Situation, die sie zu einem unbeholfenen Teenager werden ließen?
Lia schnallte sich hastig an, bevor er sie dazu auffordern konnte. Genug! Ich bin fast Dreißig, habe studiert und brauche mich nicht minderwertig zu fühlen, dachte sie bestimmt.
Flynn ließ sich neben ihr auf den ledernen Fahrersitz gleiten. Ein weiches beiges Leder, dass sicher die Hitze im Sommer erträglicher machen würde, dachte Lia. Auch er legte