Trilogie der reinen Unvernunft Bd.1. Harald Hartmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Hartmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742719959
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Meines war es nicht, denn ich hatte es zu Hause vergessen. Die Gefährtin des Gurus klappte ihre Schädeldecke auf und entnahm dem Hohlraum ein Handy, das unentwegt weiter klingelte. Während sie auf das Display blickte, verschloss sie mit einer geübten Handbewegung wieder ihren Schädel. Sie reichte es weiter an den Guru. Er ergriff es mit seinem linken Fuß und übergab es mir.

      „Für Sie“, sagte er.

      Sein linker Fuß duftete nach Rosen im Frühling. Auch wenn es nur wegen seiner Fußseife so sein sollte und sein verschrumpelter Fuß nicht aus sich selbst heraus so duftig roch, wie er roch, so war es mir in diesem Moment völlig egal. Wortlos warf ich das Handy aus der Sänfte und konzentrierte mich mit meiner Nase ganz auf das Einatmen des Rosendufts.

      Plötzlich wurde die Sänfte abgesetzt. Der Guru zog seinen Fuß zurück zu sich, küsste ihn liebevoll und legte ihn in seinem Nacken ab. Ich entstieg der Sänfte. Das Wetter war schön. Ein Schotte in kniefreiem Rock empfing mich.

      „Dreiundzwanzig“, sagte er mit fester Stimme.

      Ich vermutete, dass er mich einer strengen mathematischen Prüfung unterziehen wollte. Aber das war kein Problem für mich, denn die Mathematik war schon immer ein Buch ohne jedes Siegel für mich gewesen.

      „Fünfundzwanzig“, antwortete ich, ohne zu zögern.

      Ich hatte gewonnen. Er verbeugte sich, sichtlich zufrieden mit meiner exakten Antwort, und übergab mir ein Manuskript. Ich blickte mich um. Ein großes Allerlei würdevoller Lebewesen der Saison war hier versammelt. Alle waren mir unbekannt. Ich warf einen Blick auf das Manuskript. Was darauf stand, gefiel mir nicht. So etwas Affiges wollte ich nicht sagen. Ich bastelte mir lieber einen Fächer aus den Papierblättern, was mit allgemeinem Applaus bedacht wurde.

      „Ich weiß nicht, wo ich bin“, rief ich laut. Applaus.

      „Ich bin kein Ministerpräsident“. Wieder Applaus.

      „Ich weiß nicht, was ich tun soll“. Donnernder Applaus.

      Musik setzte ein, irrlichternd, wie aus tausend gleichzeitig spielenden Spieluhren mit jeweils unterschiedlichen Melodien. Gratulationen und begeistertes Schulterklopfen von allen Seiten. Man war mit meiner Ansprache offenbar zufrieden gewesen. Ich hatte wohl den richtigen Ton getroffen. Ich war ein guter Ministerpräsident. Dieses Talent hatte man mir bisher verschwiegen, da, wo ich herkam.

      Wind kam auf, braune Blätter flogen durch die Luft. Plötzlich war der Herbst da, und ich war immer noch Ministerpräsident. Ich nahm es jedenfalls an. Auf alle Fälle hatten die Menschen hier viel zu tun in dieser Jahreszeit. Fleißig fingen alle die wild herumfliegenden, braunen Blätter mit Schmetterlingsnetzen ein und rollten daraus große, dicke Zigarren. Eine Havanna war dagegen richtig zum Lachen. Ich, als ihr gewählter Ministerpräsident, bekam natürlich eine geschenkt. Gemeinsam gingen wir in einer langen Prozession und in absoluter Stille zu einem großen Schwimmbecken, und eine Zeremonie, wie aus einem uralten Ritual entsprungen, begann. Alle begaben sich hinein in das Becken. Keiner zog sich aus. Alle legten sich bequem mit dem Rücken aufs Wasser, das sie trug, als wäre es eine moderne Sieben-Zonen-Matratze, und fingen hingebungsvoll an, ihre Zigarren zu paffen. Ein weißer Nebel schwebte über dem Wasser. Eine Stimme sprach die Nachrichten des Tages.

      „Ministerpräsident schon wieder wiedergewählt. Einstimmig.“

      Es war also so, wie ich vermutet hatte. Ich war immer noch und auch schon wieder Ministerpräsident. Eine Hymne erklang, gespielt von einer Mundharmonika. Vielleicht die Nationalhymne.

      2

      Der Nebel war verschwunden, das Wasser auch. Ich blickte mich um. Aus dem großen Schwimmbecken war ein großes Stadion geworden. Es war komplett ausverkauft und präsentierte sich mir geschmückt in seiner vollsten Blüte. Man wollte wohl meine Wiedererwählung feiern. Ich erhob mich aus dem gepolsterten Thron meiner Ehrenloge, um allen zum Dank für ihre überrationale Wahl ein kostenloses Schauspiel zu liefern. Ich rasierte mich mit meinem teuersten Elektrorasierer. Dafür gab es Applaus. Schon wieder. Ich mochte Applaus, und ich überlegte, ob ich nicht für immer hier bleiben sollte. Nirgendwo anders hatte ich jemals vorher so viel Applaus bekommen, und nirgendwo anders würde ich jemals wieder mit so viel Applaus bedacht werden. Manchmal war eine Antwort ganz leicht, so leicht, dass sie der Schwerkraft der Frage entkam und als nun emanzipiertes Wesen unter dem Radar der Vernunft hindurch fliegen konnte.

      Da kam ein alter, unmoderner Reisebus durch das, wie immer dienstags, weit geöffnete Stadiontor herein gefahren, langsam, wackelnd in den Knien und rumpelnd mit seinen ausgeschlagenen Achsschenkeln. Er hatte ein über die gesamte Dachfläche gehendes offenes Verdeck. Reggae-Musik ertönte aus seiner Musikanlage. Vierundzwanzig gut gelaunte Putzfrauen genossen die Fahrt. Ich gönnte ihnen den schönen Ausflug zu mir. Der Bus hielt. Sie winkten mir hemmungslos zu mit ihren feuchten Feudeln. Früher wäre ich rot geworden. Ich winkte freundlich zurück. Bestimmt hatten sie die Nachrichten verfolgt und waren gekommen, um mir zu huldigen. Eine nach der anderen stieg aus. Unentwegt ließen sie die Hüften kreisen zum Rhythmus der Musik. In den Händen hielten sie ihr Handwerkszeug. Feierlich legten sie es ihrem Ministerpräsidenten zu Füßen und entschwanden tanzend in den Bus. Jetzt war es mein Handwerkszeug.

      Ich sah hinter ihnen her und vermied jegliche Interpretation, auch die, an die ich dachte. Der Busfahrer ebenso. Er profitierte von seiner jahrelangen Erfahrung. Er gab lieber Gas. Ich sah ihn nur noch von hinten. Ich hatte schon befürchtet, dass er mir noch einmal zuhupen würde. Dann wäre ich gezwungen gewesen, zurück zu winken. Er entschied sich gegen eine solche anbiedernde Geschwätzigkeit. Er verschwand ohne überflüssiges Dekor. Auf Nimmerwiedersehen. Grußlos und auf direktem Umweg durch das, wie immer dienstags, weit geöffnete Stadiontor. Ich atmete auf und dankte dem goldenen Kelch. Meist ging er nicht so entschlossen an mir vorüber.

      Der Abend war gekommen. Ich saß wieder auf meinem kalten Ministerpräsidentenstuhl in meinem feuchten, zugigen Präsidentenpalast. Dann meldete sich auch noch mein Nacken. Er fror. Im vollen Bewusstsein ebenso wie im übervollen Vollbesitz meiner absoluten Machtfülle stellte ich kurzerhand die Heizung an. Als Ministerpräsident wusste man auch in den schwierigsten Fällen immer einen Rat, manchmal auch zwei. Aber das kam zum Glück selten vor, zum Glück deshalb, weil so etwas die Abläufe der Regierungsarbeit nur aufhielt.

      Ich hatte mich nun endgültig damit abgefunden, Ministerpräsident zu sein. Mehr noch. Der Applaus hatte es mir wirklich angetan. Einer, dem Applaus egal war, konnte hier überhaupt nicht mitreden. Er kitzelte in meinem Bauch nach Leibeskräften. Aber ich lachte nie. Ich war nicht kitzelig. Ich war stark. Ich war ernst. Ich war entschlossen. Für einen Mann wie mich war es also genau der richtige Posten. Wer noch zweifelte, dem gab ich ein Beispiel für meine schier übermenschliche Tatkraft. Souverän und lächelnd demonstrierte ich allen amateurhaften Zweiflern die Funktionsweise meines aus der Hüfte geschossenen präsidentiellen Urgesteins. Ich entschied ohne weitere Diskussion mit mir selbst, alle vierundzwanzig mir überreichten Putzeimer im Garten meines Amtssitzes aufzustellen, um den Regen aufzufangen, wenn es einen geben sollte. Ich ging volles Risiko in dieser Zukunftsfrage der Putzeimer. Es sollte das größte Projekt meiner Amtszeit werden. Mein Höhepunkt setzte ein. Ich wartete auf den Applaus.

      Da erschienen wieder die zwei Herren in den korrekten Anzügen. Sie wollten an meine Tür klopfen. Doch sie war nicht da. Ich hatte sie ausgeliehen. Für die ganze Saison. Ich hatte im Moment keine Verwendung für sie. Ich bot ihnen meine Stirn. Einer klopfte den geheimen Code an ihre Wand. Ich öffnete. Er teilte mir mit, ich sei als Ministerpräsident abgewählt worden. Der andere reichte mir einen Koffer.

      „Bitte“, sagte er.

      „Danke“, sagte ich.

      Ich öffnete den Koffer, weil ich neugierig war. Er war leer.

      „Glück gehabt“, dachte ich.

      Wenn etwas drin gewesen wäre, hätte ich mir Gedanken machen müssen. Ich schloss den Koffer. Mit meinem gesamten Bauchgefühl legte ich mich auf den Rücken, streckte die Beine zum Himmel und ließ den Koffer auf meinen Fußsohlen wilde Salti vollführen. In rasendem Tempo. Niemals vorher hatte ich derartiges