Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard Otto Kranz
Издательство: Bookwire
Серия: Operation Ljutsch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742712424
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er, war auch sehr bedrückt und aufgeregt, da sie das ihr aufgetragene Vermächtnis aus nicht erklärten Gründen seid sechs Jahren mit sich herumtrug. Nun brenne es ihr so auf der Seele, dass sie diesen letzten Wunsch Igor Antonows erfüllen wolle und dem Notar den Auftrag dazu erteile.

03 Notar_sw.tif

      Die Sekretärin kam herein, schaute wieder mit lächelndem Scanner-Blick auf Oie, servierte den Eis-Kaffee und verschwand.

      Genüsslich tranken sie die Kühle.

      Der Notar tupfte sich mit der Serviette etwas Sahne von den Lippen, hüstelte und fuhr fort: »Das begegnet mir häufiger, dass alte Menschen, wenn sie das Ende ihrer Tage fühlen, den Mut fassen, wichtige Dinge zu regeln, um mit ihrem Gewissen ins Reine zu kommen und ihren Seelenfrieden zu finden. Gerade mit Russen erlebe ich das, trotz der sechzig Jahre von verordnetem Atheismus, denn es sind die lebendigen Reste des orthodoxen Glaubens in ihrer russischen Seele, Herr van Oie. Wenn Sie wüssten, wie viele der ehemaligen Macht-Eliten, der Genossen des alten Systems, zum Glauben zurückgefunden haben, Sie würden sich wundern.«

      Dabei schob er ein Formular über den Tisch, ließ ihn quittieren, notierte seine Pass-Nummer, bedankte sich – und empfahl seine Dienste für künftige Geschäfte mit Russland.

      Auf Oies Frage, was er schuldig sei, beschied der lächelnde Frosch: Nichts – die alte Dame, deren Namen er nicht nennen dürfe, hätte ihn bereits honoriert.

      Überrascht, verunsichert, gespannt und neugierig fuhr Oie durch die Backofen-Straßen Berlins. Jedes Lebewesen schien nun die Sonne zu fliehen. Selbst Spatzen unter den Straßenbäumen, an den Brotkrumen-Quellen der Dönerbuden, hockten reglos im Schatten, um mit angelüfteten Flügeln etwas vom Fahrt-Wind der vorbeirauschenden Wagen zu erhaschen.

      Auch Oie stieg eine unerklärliche Hitze in den Kopf, obwohl seine Klima-Anlage unter Volllast lief. An jeder roten Ampel schielte er auf das Kuvert neben sich auf dem Sitz. Er hätte es am liebsten gleich aufgerissen oder es wenigstens gefragt: »Was ist in dir – was ist dein Geheimnis?«

      Ein Geheimnis lauerte da, soviel spürte er – und das beunruhigte ihn zutiefst. Er bezwang sich, kurvte drei Runden für einen Parkplatz ums Stein-Karree und stieg auf zu seiner kleinen Kartause, wie er sie nannte, einer Arbeits-Wohnung im Hinterhaus eines halb verlassenen, heruntergekommenen Mietshauses, nahe der Frankfurter Allee.

      In der Wohnung zögerte Oie noch immer so, als ahne er, dass sein Leben von nun an aus den Fugen geraten würde.

      Igor Antonow, der Stratege, der nach wabernden Gerüchten den Weg zur Deutschen Einheit bereitet hatte, was konnte und wollte er ihm noch mitteilen – vor allem auf diesem konspirativen Weg? Und warum hatte die alte Dame sechs Jahre seit seinem Tode verstreichen lassen?

      Es war wohl doch ein besonderes Geheimnis, da war er sich jetzt sicher.

      Rituell geprägt, geschuldet seinen christlichen Wurzeln, goss er sich einen Wodka ein, zündete eine Kerze für den Verstorbenen an, und wünschte Igor Antonow ein schönes Dasein in der anderen Welt. Dann öffnete er das Siegel.

      2 Ein Brief – eine Liste – ein Vermächtnis

      Als er das Kuvert genauer abtastete, entdeckte er in der Tiefe die vertraute Form einer CD-Hülle. Das machte ihn zuversichtlich. Sicher, so nahm er an, waren es ein letzter Gruß und einige alte Fotos des Kultur-Funktionärs – für den er ihn lange gehalten hatte. Fotos von den verschiedenen Anlässen und Orten, bei Ausstellungen von Oies Arbeiten, Workshops und Kongressen, bei denen sie sich jeweils, und kaum vorhersehbar, in den Achtzigerjahren getroffen hatten. Moskau, Helsinki, Prag, Paris – selbst in Havanna tauchte Michakow auf, wie Kai aus der Kiste.

      Auch dort wie vom Film, in weißem Leinenanzug und Strohhut, mit Silber beschlagener Krücke, eine Zigarre schmauchend, sodass Oie einen Augenblick glaubte, es könne nur ein Doppelgänger sein – jedenfalls kein Funktionär der großen Sowjetunion, die zu der Zeit zumeist graumäusig und jenseits aller Moden gekleidet daherkamen.

      Oftmals, wenn er diesen Michakow schon fast vergessen und mit seiner Arbeit als Gestalter irgendwo zu tun hatte, traf er ihn ‚rein zufällig’ als Beobachter der Szene, in der er dann viel Zeit und ungemein anregende Gespräche zu bieten hatte. Seine Themen und Geschichten waren nicht die eines Außenhändlers von Filmen, wie man erwarten konnte.

      Michakow interessierten vielmehr der Zustand der Gesellschaft in der DDR, das Publikum und der Freundeskreis Oies – auch die Probleme und Perspektiven aus der Sicht der gestaltenden Künste.

      Fragestellungen, wie sie Oie bei vielen Intellektuellen und Künstlern im Ostblock täglich begegneten, da in Zeiten der Perestroika jedermann nach Orientierung suchte: Wo stehen wir? Wie kann es weitergehen? Was sind die entscheidenden Probleme, wo werden Lösungen sichtbar – und wo sind Verbündete?

      Michakow konnte auf eine unnachahmlich einschmeichelnde, direkte Art fragen. Mit seinen Erkundigungen zu den Gefühlen der Deutschen, zur Stellung der Kunst an der Schnittstelle zur Wirtschaft, kam er ihm von Mal zu Mal mehr vor wie ein Staubsauger der kulminierend zerbröselnden Verhältnisse.

      Ihn interessierten weniger der politische Rahmen, den er zu Teilen besser kannte als Oie. Sein Interesse galt vielmehr den Stimmungen, den Hoffnungen, den Verbindungen und Personen, die Oie aus seiner breit angelegten Tätigkeit als freier Gestalter – und nur als Künstler geduldeter Exot kannte. Freunde und Protagonisten der Perestroika in der DDR interessierten ihn besonders.

      Dem konnte und wollte Oie sich nicht entziehen, obwohl ihm Konstantin Michakow immer rätselhafter wurde. Dessen unvorhersehbares, oft kryptisches Verhalten machte ihn zunehmend stutzig und dann auch misstrauisch-einsilbig, denn er witterte dahinter einen Geheimdienst.

      Michakow bemerkte es und nutzte die Gelegenheit, anlässlich eines feuchtfröhlichen Treffens am Rande eines Design-Kongresses in Ungarn, sich unter vier Augen, mit wahrem Namen, als Igor Iwanowitsch Antonow vorzustellen. Er entschuldigte sich warmherzig und versprach, von nun an mit offenen Karten zu spielen.

      Als Verfechter und Organisator – im Dienste der Perestroika, wie er es beschrieb – war er, wie Oie es da verstand, in quasi missionarischer Funktion in den Ländern des Ostblocks unterwegs. Als Offizier des Militär-Geheimdienstes der Sowjetunion.

      Von dieser Organisation hatte Oie noch nie zuvor gehört. Sie war im öffentlichen Bewusstsein absolutes Niemandsland. Ebenso die von Igor Antonow offenbarte Tatsache, dass derartige Dienste in allen Ostblock-Ländern existierten.

      Die Perestroika und ihre letzten Begegnungen waren lange her, – und nun lag Igors Brief vor ihm.

      »Teurer Albrecht!« stand da, und Oie zog ein warmer Schauer über den Rücken. »Wenn Du diesen Brief erhalten hast, bin ich hoffentlich in einer besseren Welt. Das klingt für dich sicher merkwürdig von einem alten Kommunisten, aber ich habe mit den Jahren gelernt, dass es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir mit unserer Schulweisheit nie ergründen werden – um zu Deiner Freude einen Klassiker zu zitieren.

      Wir glaubten immer, alles im Griff zu haben, alles unter Kontrolle.

      Wir glaubten an den gesetzmäßigen Siegeszug unserer theoretisch idealen Gesellschaftsordnung – und sind doch am Leben gescheitert. Gescheitert aus Ignoranz, Dummheit und kultureller Entwurzelung, die, wie die Nonne Simone Weil formulierte, die gefährlichste Krankheit der menschlichen Seele ist.«

      Oie musste innehalten, um diese ernüchternde, menschliche Bilanz auch nur ansatzweise zu begreifen. Das hatte er am wenigsten von Igor Antonow erwartet, dessen ehern sozialistisches Menschenbild er kannte, dessen Vorstellungen vom gerechten und dabei allwissenden Staat er nicht teilte – und dessen militärisches Vokabular ihn anfangs in Erstaunen versetzte.

      Er las weiter: »Als Offizier stand ich in einem Lagezentrum der Sowjet-Armee ohnmächtig daneben, als im November 1983 die Welt in den Abgrund schaute – und wir noch einmal davongekommen sind. Ich hatte es satt, dieses ganze alkoholisierte