Manja (Eine Handvoll Sehnsucht, 1999)
Schon am ersten Tag seines Hierseins war Ludwig in die Berge gegangen. Jeden folgenden Tag stieg er höher. Die Pfade wurden schmaler, manchmal musste er ein paar Meter klettern, um weiterzukommen. Die Höhe machte ihm nichts aus, er wurde gewandter und umsichtiger, seine Ausdauer nahm zu.
In den Bergen fühlte er sich leicht und sicher, manchmal dachte er, dass da noch ein anderer, dem er noch mehr zutraute, in ihm wäre. Doch nach ein paar Tagen, als er auf seinem ersten Gipfel stand und ins Tal blickte, fehlte ihm etwas. Da stieg er hinab in den Ort und ging unter Menschen.
Urlauber flanierten in den Straßen und winkeligen Gassen, fotografierten den Marktbrunnen und buckelige Fachwerkhäuser, blieben vor Schaufenstern stehen und besichtigten die Wehrkirche, deren Tür tags weit offenstand. Andere saßen auf Bänken, das Gesicht der Sonne zugewandt, und zu den Mahlzeiten vor den Gasthöfen. Am See, etwas außerhalb des Ortes, lagen die Jüngeren auf bunten Decken, spielten Volleyball oder standen am Kiosk nach Erfrischungen an. Abseits, wo der Uferstreifen schmal und schwer zugänglich war, saßen Angler in Klappstühlen. Der Junge sah ihnen zu, aber als minutenlang nichts passierte, rannte er zurück in den Ort, und lief erneut durch das enge Gezweig der Gassen. Am Rathaus blieb er bei einem Alten stehen, der hier gewöhnlich zwischen zwei Blumenkübeln saß und unverwandt in die Wasserfontänen des Marktbrunnens blickte. Ludwig konnte an dem aufsteigenden Wasserstrahl, der etwa in zwei Meter Höhe auseinanderfiel und in abertausend silbrigen Tropfen auf die Wasseroberfläche aufschlug, nichts Besonderes entdecken. Letztlich ging er weiter, ohne zu verstehen.
Ludwig kannte rasch jeden Glockläutner, der ihm begegnete, vom Gesicht her. Auch einige Gäste traf er häufig wieder. Manchmal erschien ihm der herausgeputzte Ort wie eine Puppenbühne, auf der jeden Tag das gleiche Stück gegeben wurde. Es war wie daheim oder andernorts, wo er längere Zeit gewesen war. Es kam auch mal eine Person hinzu, eine andere blieb weg, die Leute wechselten ihre Sachen, gestern wirkten sie überhastet und heute hatten sie alle Zeit der Welt. Sie verhielten sich auch mal ungewohnt, aber insgesamt blieb es, wie es war.
Bei »Trudchen«, unweit vom Supermarkt, fand Ludwig etwas zum Naschen. Der Laden, aus dem durch ein Fenster Andenken, Getränke und Süßigkeiten verkauft wurden, war Teil einer Wohnung. Von der schrulligen Ladenbesitzerin kannten die meisten Kunden nur ihr gutmütig-breites Gesicht, den ausladenden Oberkörper und die dicken nackten Arme. Trudchen eben. Sie sagte zu jedem, der ans Fenster trat. »Herzerl. Womit kann ich dir denn heute eine Freude machen?«
Ein paar Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, war eine freie Rasenfläche. In ihrer Mitte befand sich ein Gedenkstein, bei dem sich eine junge Birke an eine alte Buche schmiegte. Hier war der Treffpunkt der einheimischen Jugendlichen.
Seit Ludwig in Glockläuten war, kam er jeden Tag hier vorbei. Nach Trudchens Laden wurde Ludwig langsamer und sah wie nebenbei über die Straße. Auch die Gesichter der ihm etwa gleichaltrigen Jungen und Mädchen hatten sich ihm eingeprägt. Ihre kommandierenden Zurufe und übermütigen Schreie, ihr bald zustimmendes und bald höhnisches Lachen und ihre schrillen Pfiffe waren ohnehin nicht zu überhören. Es zuckte ihm in den Füßen, wenn er den Ball zwischen ihnen hin- und herspringen sah.
Heute ging er besonders langsam. Eines der Mädchen, das ihm schon vorher aufgefallen war, rief etwas über die Straße. Ludwig blieb unwillkürlich stehen und sah sich um.
Der Junge zögerte, das Mädchen winkte und lachte. Er schob die Hände in die Hosentasche, überquerte die Straße, blieb auf dem schmalen Fußweg stehen und sah zu, wie die Jungen sich den Ball abjagten. Das Mädchen sprang mit einem Jauchzer dazwischen, schnappte sich den Ball und stellte sich vor den Ankömmling.
Ludwig spürte, wie ihm das Blut heiß in den Kopf schoss. Das war wie eine verhasste Kinderkrankheit, die er einfach nicht losbekam. Das Mädchen mochte etwas älter sein als er. Vielleicht vierzehn, fünfzehn. Sie hatte wuschelige rote Haare, spöttische Augen und einen kleinen roten Mund. Ihr Gesicht und die Arme waren mit Sommersprossen übersät. Sie trug einen knallig gelben Pulli, kurze ausgefranste Jeans, und ihre nackten Füße waren schmutzig und voller Schrammen.
»Ich bin Manja«, sagte das Mädchen, als mache sie nur noch einmal auf etwas aufmerksam, das allgemein bekannt war.
Ludwig nickte verhalten, dann sagte er: »Ludwig. – Ich heiße Ludwig Grün.«
Der Junge war mindestens einen halben Kopf größer als das Mädchen, doch er kam sich ihr gegenüber kleiner vor.
»Grüner Ludwig!« Manja lachte. »Klingt wie ein Vogelname.«
Einige Mädchen «glucksten abwartend, die Jungen pfiffen.
Ludwig sah ausweichend über die spitzen Dächer des Ortes, wo der schneebedeckte Gipfel des im näheren Umkreis höchsten Berges zu sehen war.
Manja drehte den Kopf leicht beiseite und fuhr die anderen an: »He, nun seid doch nicht blöd!«
Ludwig hörte ihrem Lachen nach. Es war das Lachen eines Mädchens, klang aber auch wie das einer Frau. Und wie er es noch nicht gehört hatte, als sagte es: Folge mir.
»Der kommt von drüben«, sagte ein Junge. »Er wohnt bei den Anzengrubers. Die sollen ihn aufpäppeln.«
Ludwig hatte den Jungen stets in der Nähe des Mädchens gesehen. Die anderen riefen ihn Toni. Er war nicht groß, aber kräftig, seine schwarzen Haare waren kurz und drahtig, die dunklen Augen blickten entschlossen.
Toni stellte sich neben Manja, dass sich ihre Oberarme leicht berührten.
Manja lachte leise auf und warf den Ball überraschend und scharf Ludwig zu, der ihn dennoch auffing.
»Drüben gibt es nicht mehr«, sagte belehrend ein Mädchen.
»Drüben bleibt drüben«, entgegnete Toni. »Sagt mein Vater. Alle sagen es.«
»Und du?« Manja stupste Ludwig mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Was sagst du?«
»Ich?« Ludwig drehte den Ball zwischen seinen Händen, er war prall und glatt und roch nach Gras. »Ich – ich weiß nicht.«
Geschickt riss Toni den Ball an sich und stellte einen Fuß darauf.
»Soll ich dir was schenken?« Manja streckte Ludwig die Hand hin, sie war geschlossen, die Finger bewegten sich ein wenig. Als befände sich etwas Lebendiges darin.
»Was hast du denn da?«, rief Toni.
»Na, wer von euch will es haben?« Das Mädchen hielt ihre Hand einmal dem einen, dann dem anderen Jungen hin. Nun legte sie zärtlich ihre andere Hand darum, zog sie an ihre Brust, öffnete sie spaltbreit, lugte hinein, roch daran, hob sie ans Ohr, schüttelte sie ein wenig und lauschte träumerisch.
Die Blicke der beiden Jungen begegneten sich, sie sahen weg, als fühlten sie sich ertappt.
Manja warf jäh beide Arme hoch und rannte los, die Straße hinunter.
Die Jungen und Mädchen jagten ihr hinterher, als erster Toni, er rief: »Warte nur! Ich krieg dich doch!«
Ludwig war mit losgerannt, aber dann doch stehen geblieben. Er sah ihnen hinterher, bis sie in einer Seitengasse verschwanden.
Von nun an blieb Ludwig auch tagsüber im Gasthof der Anzengrubers. Er half bei der Arbeit, schälte Kartoffeln, schabte Möhren, lernte Kaffee kochen und dergleichen mehr. Es dauerte nicht lange, da nahm er in der Gaststube auch Bestellungen auf und half, Getränke und Speisen zu servieren. Er fragte: »Die Herrschaften wünschen, bitte schön?« Und er sagte: »Hat es den Herrschaften geschmeckt? Danke auch schön. Beehren Sie uns doch wieder.« Die Gäste mochten ihn, er war in allem noch ungeschickt, doch er lernte schnell, sein breiter Dialekt belustigte sie.
Im »Edelweiß«, das auch Hotel war, gab es immer zu tun. Ludwig fasste zu, wo er gebraucht wurde. Zu Hause hätten sie gestaunt. Vor allem Mutter, die oft sagte: »Junge, für die Hausarbeit bist du einfach nicht zu