Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Серия: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742772527
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dem Felsen geholt, an den er geschmiedet war? So laß wenigstens den, der ihn sich errungen hat, der

       mein Alter durch die Rettung meiner Tochter getröstet, in Ruhe!«

       Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur abwechselnd mit grimmigen Blicken bald seinen

       Bruder, bald seinen Nebenbuhler, als besänne er sich, auf wen er zuerst zielen sollte. Endlich nach

       kurzem Verzuge schwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm gab, den Speer gegen Perseus; aber er

       tat einen Fehlwurf, und die Waffe blieb im Polster hängen. Jetzt fuhr Perseus vom Lager empor und

       schleuderte seinen Spieß nach der Türe, durch welche Phineus eingedrungen war, und er würde die

       Brust seines Todfeindes durchbohrt haben, wenn dieser sich nicht mit einem Sprunge hinter den

       Hausaltar geflüchtet hätte. Das Geschoß hatte die Stirne eines seiner Begleiter getroffen, und jetzt

       kam das Gefolge des Eingedrungenen mit den längst von der Tafel aufgestörten Gästen ins

       Handgemenge. Lang und mörderisch war der Kampf; aber der Eingebrochenen war die Mehrzahl.

       Zuletzt wurde Perseus, an dessen Seite sich umsonst die Schwiegereltern und die Braut

       schutzflehend stellten, von Phineus und seinen Tausenden umringt. Die Pfeile flogen an ihnen von

       allen Seiten vorbei wie Hagelkörner im Sturme. Perseus hatte die Schultern an einen Pfeiler gelehnt

       und sich so den Rücken gedeckt. Von da zur Heerschar der Feinde gewendet, hielt er den Anlauf der

       Feinde ab und streckte einen um den andern nieder. Erst als er sah, daß die Tapferkeit der Menge

       erliegen müsse, entschloß er sich, das letzte, aber untrügliche Mittel, das ihm zu Gebote stand, zu

       gebrauchen. »Weil ihr mich genötigt«, sprach er, »will ich mir die Hilfe bei meinem alten Feinde

       holen! Wende sein Antlitz ab, wer noch mein Freund ist!« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche,

       die ihm immer an der Seite hing, das Gorgonenhaupt und streckte es dem ersten Gegner zu, der jetzt

       eben auf ihn eindrang. »Suche andere«, rief dieser verächtlich beim ersten flüchtigen Blicke, »die du

       mit deinen Mirakeln erschüttern kannst.« Aber als seine Hand sich heben wollte, den Wurfspieß

       abzusenden, blieb er mitten in dieser Gebärde versteinert wie eine Bildsäule. Und so widerfuhr es

       einem nach dem andern. Zuletzt waren nur noch zweihundert übrig. Da hub Perseus das

       Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, daß alle es erblicken konnten, und verwandelte die

       zweihundert auf einmal in starres Gestein. Jetzt erst bereut Phineus den unrechtmäßigen Krieg.

       Rechts und links erblickt er nichts als Steinbilder in der mannigfaltigsten Stellung. Er ruft seine

       Freunde mit Namen, er berührt ungläubig die Körper der Zunächststehenden: alles ist Marmor.

       Entsetzen faßte ihn, und sein Trotz verwandelte sich in demütiges Flehen. »Laß mir nur das Leben,

       dein sei das Reich und die Braut!« rief er und kehrte sein verzagendes Angesicht seitwärts. Aber

       Perseus, über den Tod seiner neuen Freunde erbittert, kannte kein Erbarmen. »Verräter«, schrie er

       zornig, »ich will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in meines Schwähers Hause stiften!«

       Und sosehr Phineus bemüht war, dem Anblicke zu entgehen, so traf doch bald das ausgestreckte

       Schreckensbild sein Auge: sein Hals erstarrte, sein feuchter Blick erharschte zu Stein. So blieb er

       stehen mit furchtsamer Miene, die Hände gesenkt, in knechtischer, demütiger Stellung. Ohne

       Hindernis führte jetzt Perseus seine Geliebte, Andromeda, heim. Lange glückliche Tage erwarteten

       ihn, und er fand auch seine Mutter Danae wieder. Doch sollte er an seinem Großvater Akrisios das

       Verhängnis erfüllen. Dieser war aus Furcht vor dem Orakelspruche zu einem fremden Könige ins

       Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampfspiele feiern, als eben Perseus ankam, der auf der Fahrt

       nach Argos begriffen war, wo er seinen Großvater begrüßen wollte. Ein unglücklicher Wurf mit der

       Scheibe traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne daß dieser jenen kannte oder treffen wollte.

       Nicht lange blieb ihm verborgen, was er getan. In tiefer Trauer begrub er den Akrisios außerhalb der

       Stadt und vertauschte das Königreich, das ihm durch des Großvaters Tod zugefallen war. Doch

       verfolgte ihn der Neid des Geschickes nicht länger. Andromeda gebar ihm viele herrliche Söhne, und

       der Ruhm des Vaters lebte in ihnen fort.

       Ion

       Der König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Krëusa hieß. Mit dieser

       hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren,

       welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte,

       wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die

       Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne

       Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte.

       Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder

       seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder

       Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu verkehren

       hatte. »Lieber Bruder«, sprach er, »eine Sterbliche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des

       Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen

       verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es

       gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das

       übrige laß meine Sorge sein, denn es ist mein Kind.« Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen,

       fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in

       welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und

       den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dies geschah bei Nacht. Am

       andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel

       geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste

       schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es

       von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann;

       denn der Gott wandte ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die Prophetin nahm also

       das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen. Der Knabe

       erwuchs, um den Altar seines Vaters spielend, und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein

       stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gewohnt

       worden waren, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der