Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Meyrink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742766250
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kennen lernen will, wie es ein Säugling an sich erfahren müßte, der über Nacht zum erwachsenen Manne

       heranreift, – weil ich ein Schlußpunkt werden will und nicht ewig ein Komma bleiben. Ich verzichte auf das 'geistige

       Erbe' meiner Vorfahren zugunsten des Staates und will lieber lernen, alte Formen mit neuen Augen zu sehen, statt, wie

       bisher, neue Formen mit alten Augen; vielleicht gewinnen sie dann ewige Jugend! – Der Anfang, den ich gemacht habe,

       war gut; nur muß ich noch lernen, über alles zu lächeln und nicht bloß zu staunen."

       Nichts wirkt so einschläfernd wie geflüsterte Reden, deren Sinn dem Ohre unverständlich bleibt. Die in leisem Ton

       und großer Hast geführten Gespräche zwischen dem Balkangesicht und dem Zulukaffern hinter dem Vorhang

       betäubten den Fremden durch ihre hypnotisierend eintönige Unablässigkeit, so daß er einen Moment in tiefen

       Schlummer fiel.

       Als er sich gleich darauf wieder emporriß, hatte er die Empfindung, eine überwältigende Menge innerer Aufschlüsse

       bekommen zu haben; aber nur ein einziger dürrer Satz war als Quintessenz in seinem Bewußtsein zurückgeblieben, –

       eine phantastische Verkettung von kürzlich erlebten Eindrücken und fortgesponnenen Gedanken: "Schwerer ist es, das

       ewige Lächeln zu erringen, als den Totenschädel in den abertausend Gräbern der Erde herauszufinden, den man in

       einem früheren Leben auf den Schultern getragen; erst muß der Mensch sich die alten Augen aus dem Kopf weinen,

       bevor er die Welt mit neuen Augen lächelnd zu betrachten vermag."

       "Und wenn es noch so schwer ist, der Totenschädel wird gesucht!" verbiß sich der Fremde hartnäckig in die

       Traumidee, felsenfest überzeugt, daß er vollkommen wach sei, während er in Wirklichkeit wieder tief eingenickt war,

       "ich werde die Dinge schon zwingen, deutsch mit mir zu reden und mir ihren wahren Sinn zu verraten, und zwar in

       einem neuen Alphabet, statt mir, wie früher, mit wichtigtuerischer Miene alten Kram ins Ohr zu raunen, wie: 'Siehe, ich

       bin ein Medikament und mache dich gesund, wenn du dich überfressen hast, oder ich bin ein Genußmittel, damit du

       dich überfressen und wieder zum Medikament greifen kannst.' – Hinter den Witz, daß sich alles in den Schwanz beißt,

       wie mein Freund Pfeill sagt, bin ich nachgerade gekommen, und wenn das Leben keine gescheiteren Lektionen

       aufzugeben weiß, gehe ich in die Wüste, nähre mich von Heuschrecken und kleide mich in wilden Honig."

       "Sie wollen in die Wüste gehen und die höhere Zauberei lernen, – nebbich –, wo Sie noch so dumm sind, einen

       albernen Trick mit Korkstöpseln bar in Silber zu bezahlen, einen Vexiersalon von der Welt kaum unterscheiden

       können und nicht einmal ahnen, daß in den Büchern des Lebens etwas anderes steht, als hinten draufgedruckt ist? –

       Sie sollten 'Grün' heißen und nicht ich", hörte der Fremde plötzlich eine tiefe, bebende Stimme auf seine Reminiszenzen

       antworten und, als er erstaunt aufblickte, stand der alte Jude, der Inhaber des Ladens, im Raum und starrte ihn an.

       Der Fremde entsetzte sich; ein Gesicht, wie das vor ihm, hatte er noch nie gesehen.

       Es war faltenlos, mit einer schwarzen Binde über der Stirn, und dennoch tief gefurcht, so, wie das Meer tiefe Wellen

       hat und doch nie runzlig ist. – Die Augen lagen darin wie finstere Schlünde und waren trotzdem die Augen eines

       Menschen und keine Höhlen. Die Farbe der Haut spielte ins Olive und war wie aus Erz; so, wie es die Geschlechter

       der Vorzeit, von denen es heißt, sie wären gleich schwarzgrünem Gold gewesen, ähnlich gehabt haben mögen.

       "Seit der Mond, der Wanderer, am Himmel kreist", sprach der Jude weiter, "bin ich auf der Erde. Ich habe

       Menschen gesehen, die waren wie Affen und trugen steinerne Beile in den Händen; sie kamen und gingen von Holz" –

       er zögerte eine Sekunde – "zu Holz, von der Wiege zum Sarg. Wie Affen sind sie noch immer – und tragen Beile in

       den Händen. Es sind Abwärtsstarrer und wollen die Unendlichkeit, die im Kleinen verborgen liegt, ergründen.

       Daß im Bauch der Würmer Millionen von winzigen Wesen leben und in diesen wieder Milliarden, haben sie

       ergründet, aber noch immer wissen sie nicht, daß es auf diese Art kein Ende nimmt. Ich bin ein Abwärtsstarrer und ein

       Aufwärtsstarrer; das Weinen habe ich vergessen, aber das Lächeln habe ich noch nicht gelernt. – Meine Füße sind naß

       gewesen von der Sintflut, aber ich habe keinen gekannt, der Grund zum Lächeln gehabt hätte; mag sein, ich habe ihn

       nicht beobachtet und bin an ihm vorübergegangen.

       Jetzt spült an meine Füße ein Meer von Blut, und da soll einer kommen, der lächeln darf? Ich glaub's nicht. – Ich

       werde wohl warten müssen, bis das Feuer selbst Woge wirft."

       Der Fremde zog sich den Zylinder über die Augen, um das schreckliche Gesicht, das sich immer tiefer in seine Sinne

       einfraß und seinen Atem stocken machte, nicht länger zu sehen, und daher bemerkte er nicht, daß der Jude zum Pult

       zurückging, die Verkäuferin auf den Zehenspitzen an seine Stelle trat, einen Totenkopf aus Papiermaché, ähnlich dem

       in der Auslage, aus dem Schrank nahm und geräuschlos auf ein Taburett stellte.

       Als dem Fremden plötzlich der Hut vom Kopf rutschte und zu Boden fiel, hob sie ihn blitzschnell auf, noch ehe sein

       Besitzer danach greifen konnte, und begann gleichzeitig ihren Vortrag:

       "Sie sehen hier, mein Herr, das sogenannte Delphische Orakel; durch es sind wir jederzeit in der Lage, einen Blick in

       die Zukunft zu tun und sogar Antworten auf Fragen, die in unserm Herzen" – sie schielte aus unbekannten Gründen in

       ihren Busenausschnitt – "schlummern, zu erhalten. Ich bitte, mein Herr, im Geiste eine Frage zu tun!"

       "Ja, ja, schon gut", brummte der Fremde, noch ganz verwirrt.

       "Sehen Sie, der Schädel bewegt sich bereits!"

       Langsam öffnete der Totenkopf das Gebiß, kaute ein paarmal, spuckte eine Papierrolle aus, die die junge Dame

       hurtig auffing und entrollte, und klapperte dann erleichtert mit den Zähnen; –

       "Ob deiner Seele Sehnsucht in

       Erfüllung geht? – Fahr drein

       mit fester Hand und setz das

       Wollen an der Wünsche Statt!"

       stand mit roter Tinte – oder war es Blut? – auf dem Streifen geschrieben.

       "Schade, daß ich mir nicht gemerkt habe, was es für eine Frage war", dachte der Fremde. – "Kostet?"

       "Zwanzig Gulden, mein Herr."

       "Schön. Bitte –", der Fremde überlegte, ob er den Schädel gleich mitnehmen solle, – "nein, es geht nicht, man würde

       mich auf der Straße für den Hamlet halten", sagte er sich, "bitte, schicken Sie ihn mir in meine Wohnung; hier ist das

       Geld."

       Er warf unwillkürlich einen Blick in das Bureau am Fenster, – mit verdächtiger Unbeweglichkeit stand der alte Jude

       vor seinem Pult, als hätte er die ganze Zeit über nichts als Eintragungen ins Hauptbuch gemacht, – dann schrieb er auf

       einen Block, den die Verkäuferin ihm hinhielt,