Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nieke V. Grafenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242218
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      CLARAS

      GESCHICHTE

      *

      Nieke V. Grafenberg

      Buch

      Dreizehn Gepäckstücke und ein Kind - die Grafschaft Bentheim ist Fluchtpunkt für Clara und ihre Mutter, die Großeltern sind schon vor ihnen da. Das kleine Mädchen steht im Mittelpunkt dieser Nachkriegsgeschichte, die aus Claras kindlicher Sicht erzählt wird. Vertreibung, Hunger, Notunterkünfte - das typische und doch wieder einzigartige Schicksal einer gebeutelten Flüchtlingsfamilie. Aus ihren Erinnerungen setzt sich die Geschichte zusammen wie ein Puzzle. Kindheit, Sexualität, Erwachsenwerden. Und der sehnliche Wunsch, so bald wie möglich familiären Zwängen zu entkommen. Claras Geschichte - ein fesselndes Bild der Zeit.

      Impressum

      Claras Geschichte

       Nieke V. Grafenberg

       Copyright: © 2012 Nieke V. Grafenberg

      Titelbild: © iStockphoto.com/Vetta Stock Photo/HultonArchive

       Herausgegeben von: epubli GmbH, Berlin

       www.epubli.de

       ISBN 978-3-8442-4221-8

      Ach, angenommen, ich stimme dem zu,

      da bist du also, meine Kindheit,

      so lebendig, so gegenwärtig,

      Firmament aus blauem Glas,

      Baum voll Laub und Schnee,

      Fluss, der dahinströmt, wohin gehe ich?

      – Charles Plisnier

      PROLOG

      Ich will die Geschichte von Clara erzählen, vielleicht weil sie meine eigene ist.

      Clara war nach niemandem genannt. Nach der eigenen Mutter nicht und nicht nach der Mutter der Mutter. Aus ihr war kein Mariechen geworden, auch keine Anna, selbst unter fernen Ahnen taucht dieser Name nicht auf. Sie war Clara, der Vater hatte es so gewollt. Wie jedes Kind war sie einzig - punktum.

      Viel zu lange hatte ich sie aus den Augen verloren - die Ereignisse und das Kind. Hatte, wie es so ist im Leben, mit dem ganz gewöhnlichen Alltag zu tun. Beruf, Heirat, Kinder - die übliche Hetze - bis eine Zeit kam, in der ich wirklich allein war. Bis aus der Not heraus das Bedürfnis entstand, in eine Art Kindheitstraum einzutauchen, auf die eine oder andere Art ist er jedem bekannt. Erfahrungen kommen erst später.

      Auf der Suche nach Träumen der Kindheit ist eines gewiss: Wir müssen uns in ein Labyrinth begeben, zu Höhlen mit Bildern, die uns die Welt eröffnet haben, nicht jeder ist dazu bereit. Wir sehen, wie wir einmal waren, ganz unverzerrt. Alle prägenden Ereignisse, alle Freuden, alle Leiden hat dieses Traumkind in sich vereint und für uns aufbewahrt, für den Weg in die Kindheit als Urbild des einfachen Glücks.

TEIL I

      EINS

      Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...

      Die heilige Anna, die Mutters Mutter und Claras Großmutter ist, steht mit gefalteten Händen. Sie betet, wie sie in Notzeiten immer beten wird: lautstark und unvermeidlich. Von der Mutter gehalten das hellblonde Kind auf dem Fensterbrett, der Großvater an ihrer Seite. Panzer mit langen Rohren rasseln vorbei, die Erde erschüttert, es braust in den Ohren, im Haus vis à vis winken Leute. Juni sechsundvierzig, mit drei und ein bisschen setzt bei dem Kind die Erinnerung ein. Der Himmel öffnet seine Schleusen, der Rinnstein fasst das Wasser nicht mehr. Sie darf - welch ein Tag - barfuß darin waten.

      Steinstraße Schüttorf ist Zuflucht im äußersten Westen. Die Großeltern sind schon vor ihnen da, Grafschaft Bentheim hört sich ganz gut an. Eine Bettstelle kommt an die Wand, Strohsäcke werden hereingetragen. Die Küche ein länglicher, finsterer Raum, zum Klosett müssen sie auf die Straße hinaus und zwischen den Häusern die hohle Gasse nehmen. Auf dem Ofen, stumpf wie das rußige Ofenrohr, steht eine eiserne Pfanne.

      Heute weiß ich, warum der Ofen in Claras Labyrinth seinen Platz gefunden hat, und warum ausgerechnet die Pfanne. Halb im Spaß, halb im Ernst - der Großvater hat sie geschnappt und gedroht, sie hineinzusetzen, sie ist wohl zu lebhaft gewesen. Denn obschon Clara klein ist, sie ist schnell wie der Wind. Wild nennt es die Mutter, sie hebt ihre Schultern und schüttelt bekümmert den Kopf:

      „Seit das Kind läuft, läuft es auf Zehenspitzen!“

      Doch die Pfanne ist heiß an dem Tag. Der Rand hat der Kleinen, nur weil sie sich sträubt, eine Brandwunde quer zum Handrücken zugefügt. Nu, nu! Die Stimme der Großmutter reibeisenrau. Mariechen! ruft sie und Mehl!, um es auf die frische Wunde zu schaufeln. Weil - im Bäckerhaushalt jedenfalls - dem Mehl wie der Milch Heilkräfte innewohnen, während die Butter den Nebeneffekt eines Lösungsmittels hat, soll sie doch allergemeinste Teer- und Fettflecke ausmerzen können.

      Den Beweis liefert Clara mit zehn. Im weiß-rosa Sonntagskleid (von dem Mutter behauptet, dass die haarnadelfeinen Querstreifen ihre Augen ganz fürchterlich auf die Probe stellen, und dass, wenn sie nicht rechtzeitig wegsieht, ihr davon ganz schwummrig wird) schlüpft sie durch teerige Weidezaundrähte, weil der Weg querfeldein der kürzere ist. Im Schlafzimmer reibt sie die Teerspur mit guter Butter heraus - ansatzlos, wie sie aufatmend feststellt. Mutter ist gerade nicht da, was so selten vorkommt wie Fettflecke damals, als Großvater Clara die Hand verbrennt. Eine knappe Tasse Mehl ist der Vorrat, kein Stückchen Butter, nicht ein Tropfen Milch. An Mutters Gesicht an dem Tag kann Clara sich nicht erinnern. Wohl aber an die hässliche Wunde. Die Ränder, entflammt, wölben sich hoch und nach außen. Mutters und Großmutters Kopf einträchtig über der Kinderhand. Zu viel Mehl oder zu wenig? Und wäre nicht Milch die bessere Lösung gewesen?

      Auf jeden Fall will sie nicht heilen, die Hand. Die Narbe glänzend und breit - Claras Wasserzeichen bis ans Ende ihrer Tage.

      Jahre später ein ähnlicher Ofen in einem Ort in der Grafschaft, der Veldhausen heißt. Ein schwarzer Bullerofen im Schlafzimmereck. Beheizt nur im eiskalten Winter, wenn ein mit Lappen umwickelter Ziegel Clara die Füße wärmen muss. Wenn die Nasenspitze über der Zudecke langsam vereist und auf dem Fensterglas Blumen sprießen, so frostig milchweiß wie die Rosen auf Claras Aussteuergläsern mit eckigem Fuß.

      Meine Gedanken, sie wandern, sind der Zeit ein Stück weit voraus geeilt. Denn noch holpert Clara auf Feldwegen von Gehöft zu Gehöft, Mutter bückt sich zu Clara im Wagen. Sie putzt ihr die Nase, rückt ihr die Strickmütze mit der Quaste und dem Muster aus Herzen und Rauten über der Tolle zurecht und fragt sich durch zu der Bäuerin.

      „Haben Sie nicht ein Butterbrot für das hungrige Kind?“

      Die Schnitte gigantisch in Claras Kleinkinderhand - hat Mutter je einen Bissen für sich abgezweigt, hat sie bisweilen ein Stück von dem Brot mit nach Hause bekommen? Nicht nur einmal wird Clara sich das und anderes fragen, aber, wie es so ist im Leben, manch Pforte soll geschlossen bleiben. So sehr sie es sich auch wünschen mag - Sinnesreize wie Hunger und Kälte oder der Geschmack von Bauernbutter auf frisch gebackenem Bauernbrot lassen sich nicht auf Knopfdruck herbeizaubern.

      Dabei ist der Duft von Mehl und Brot allgegenwärtig. Denn wo von der Straße, in der Clara wohnt, die Mühlengasse zur Vechte abzweigt, steht als Eckhaus die Bäckerei Schevel, als müsse es so und nicht anders sein. In Oberschlesien ist der Großvater Bäcker gewesen - Bäckermeister in Kattowitz, Mutter tippt auf ein Foto mit gelblichem Zackenrand, damit Clara auch ja gründlich hinsieht. Der Schlund des Backofens gewaltig genug, sich Hänsel und Gretel einzuverleiben. Oder besser die garstige Hexe nach dem entschiedenen Schubs - zwei Gesellen mit Mützen halten die Brotschieber zackig bei Fuß wie Soldaten ihre Gewehre.

      Auf dem folgenden Foto sind Mutter und Großmutter als flammende Engel im Zwielicht des Ladens vor nahezu leeren Regalen zu sehen. Adrette weiße Flügelschürzen über dem Kleid - wer kleine Kinder hat, darf an die wundersame Brotvermehrung glauben, die heilige Anna gibt stets ein paar Semmeln mehr in den Korb. Wird, als die Zeiten schon schlecht sind, vom