JEDER. Thomas Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Seidl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847690450
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länger, doch alle Leute hier im Dorf mögen Edgar und darum nimmt ihm das fast keiner übel. Natürlich gibt es immer mal wieder den einen oder anderen, der sich darüber amüsiert, doch ich bewundere seinen Willen, denn es ist nicht leicht, alles nur mit einem Arm herzurichten und zu servieren. Vor allem Pete, der Besitzer des Lokals, steht voll und ganz hinter Edgar.“

      John sah ihm vom Tisch aus beim Zubereiten zu. Edgar hatte eine leicht bräunliche Haut, die aber nicht von einem Solarium stammte, sondern angeboren sein musste. Wahrscheinlich war er südlicher Abstammung, denn der Hautton war gleichmäßig und passte zu seiner gesamten äußerlichen Erscheinung. Da John ihn nicht älter als 45 schätzte, musste es ein herber Rückschlag gewesen sein, seinen Arm zu verlieren. Immerhin steckte er doch erst in der Blüte seines Lebens. Das dachte John jedenfalls, denn er selbst war letztes Jahr 50 geworden und wusste, wovon er sprach. Edgar hatte jeden seiner Handgriffe für diese Arbeit perfektioniert. John war von der Art und Weise, wie dieser Kellner mit seiner Behinderung umging, sichtlich angetan. „Bemerkenswert!“

      „Wie, bemerkenswert?“

      „Entschuldigung, ich war in Gedanken! Ich habe kurz über Edgar nachgedacht und finde es einfach bemerkenswert, wie er das alles meistert. Aber nun kommen wir zu unserem Fall. Was haben die Ermittlungen bis jetzt ergeben?“

      Sarah dachte kurz nach. „Wir stehen in diesem Fall ganz am Anfang, wenn man es denn als einen Fall bezeichnen will. Erstens gibt es einen Abschiedsbrief, zweitens gibt es keine Anzeichen dafür, dass Susan Sterling etwas zugestoßen ist, und drittens sind schon öfter junge Mädchen weggelaufen. Das ist nicht das erste Mal, und davon kann ich ein Lied singen, denn obwohl wir hier in einem Dorf leben, verschwinden immer wieder junge Leute und tauchen Wochen später wie aus dem Nichts wieder auf. Also, glauben Sie mir, das hier ist kein Fall, und es geschah kein Verbrechen.“

      John hob seine Hand zum Mund und drückte mit dem Daumen und dem Zeigefinger seine Lippen zusammen. „Wie Sie meinen, Sarah! Aber ich zweifle daran, dass Susan einfach so gegangen ist. Um aber mein endgültiges Urteil zu fällen, ob es ein Fall ist oder nicht, bräuchte ich Ihre Hilfe.“ Edgar brachte in diesem Moment gerade den Kaffee für John. „Danke.“

      „Bitte, Sir.“

      John holte seine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine davon an. „Das habe ich gebraucht! Eine Zigarette und einen Kaffee. Ich bin wohl der einzige Engländer, der Kaffee einem Tee vorzieht. Aber zurück zu dem, wo wir waren. Ich habe mir Susans Zimmer genau angesehen. Dabei fiel mir ein Foto auf, das ihren Vater und sie als kleines Kind beim Angeln zeigt. Auf die Rückseite schrieb sie ‚Dis la vérité‘. Was das heißt, müssen Sie bitte herausfinden. Aber es war nicht die gleiche Handschrift wie die des Abschiedsbriefes, das konnte ich mit einem Auge erkennen. Die Handschrift des Briefes war gewollt ähnlich geschrieben, das fiel mir sofort auf, doch sie war auch leicht zittrig. Ob das etwas zu bedeuten hat, weiß ich noch nicht so genau, aber da kommen wir zu Ihrem dritten Punkt. Ja, Teenager laufen häufig weg, doch Susan ist keine vierzehn oder sechzehn Jahre mehr alt. Sie ist mittlerweile einundzwanzig und kam erst vor Kurzem in das Dorf zurück. Warum also sollte sie, ohne etwas zu sagen, davonlaufen? Das ergibt doch gar keinen Sinn!“

      Sarah hatte währenddessen ihr Smartphone aus der Hosentasche geholt und nach dem französischen Ausdruck gegoogelt. „John, diese Worte bedeuten so viel wie ‚sag die Wahrheit‘. Vielleicht haben Sie recht. Vor allem ist uns aufgefallen, dass sie ihr Schauspielstudium in London abgebrochen hatte, nur um nach Steak­beaver zurückzukehren und in der Firma ihres Vaters zu arbeiten. Das hatte mich schon leicht stutzig gemacht und diese Worte jetzt … Ich weiß nicht so recht.“

      „Wie gut, dass Sie so ein neuartiges Smartphone benutzen! Ich habe noch so ein altertümliches, darum wollte ich Sie erst fragen, ob Sie mir in der Polizeizentrale danach googeln könnten. Das hat sich ja jetzt erledigt, und ich hatte mir fast schon gedacht, dass sie ihr Studium abgebrochen hat. Das wäre meine zweite Frage gewesen. Dritte Frage – besitzt Susan eine Kredit- oder Bankomatkarte?“

      In diesem Moment brachte Edgar gerade das Frühstücksei für Sarah. „Wie immer, weichgekocht, genau vier Minuten. Für mich noch immer zu wenig, aber für dich anscheinend genau richtig.“

      „Danke, Edgar, vier Minuten für ein weichgekochtes Ei sind perfekt, das weißt du ja.“ Sarah griff nach dem Messer, das auf dem kleinen Teller neben dem Frühstücksei lag, und schnitt damit den oberen Teil des Eies ab. Dann nahm sie ein wenig Salz und schüttete es darüber. Mit dem kleinen Löffel, der sich ebenfalls auf dem Teller befand, löffelte sie langsam das Ei aus. „Also, wo waren wir gerade? Genau, Bankomatkarte und oder Kreditkarte. Sie hat beides, doch seit sie abgängig ist, hat sie keine von beiden benutzt.“

      „Und das hat Sie nicht stutzig gemacht?“

      „Nein, denn Mrs. Sterling erzählte uns, dass Susan über eine größere Menge an Bargeld verfügt, denn sie liebt ihre Kredit- oder Bankomatkarte nicht so sehr, und wenn sie im Moment bei Freunden untergekommen ist, würde sie wahrscheinlich ziemlich lange mit ihren Reserven auskommen. Natürlich war es ein Punkt, der zum Nachdenken anregte, aber einer meiner Kollegen kannte Susan ziemlich gut, denn er ist mit ihr in die Schule gegangen. Er beschrieb sie als sprunghaft und eigensinnig und meinte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt habe, dann zöge sie das auch durch. So schien es uns schon glaubhaft, dass sie nach kurzer Zeit und obwohl sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte einfach so wegging.“

      „Ich verstehe, Sarah. Eines beschäftigt mich aber noch. Sie haben mir vorher erzählt, dass schon mehrere Teenager weggelaufen sind. Von wie vielen sprechen wir da?“

      „Also, das weiß ich jetzt auch nicht auswendig, aber ich könnte in den nächsten Tagen in den Akten nachsehen.“

      „Das wäre wirklich gut.“

      Sarah rief nach dem Kellner. „Edgar, wir würden gerne zahlen.“

      Der Kellner kam zu ihnen. John holte seine Geldbörse hervor. „Das geht auf meine Rechnung, danke.“

      „Nein, ich zahle meine Rechnungen noch immer selbst, ich lasse mich nicht einladen, trotzdem danke.“

      Nachdem John und Susan bezahlt hatten, verließen sie das Café.

      Fragend sah Sarah John an. „Und was machen wir jetzt?“

      „Das ist eine sehr gute Frage. Gibt es noch weitere Verwandte der Sterlings hier in der Gegend, die Susan kennen?“

      „Ja, den Onkel und Susans Tante. Sie wohnen ungefähr zwei Kilometer von der Villa der Sterlings entfernt und besitzen ein größeres Herrenhaus. Sie müssen am Anwesen der Sterlings vorbeifahren und dem Verlauf der Straße folgen, dann sehen Sie es auf der rechten Seite. Das Haus hat einen hässlichen blauen Anstrich, den man gar nicht übersehen kann.“

      „Sehr gut, dann werde ich den beiden einen Besuch abstatten, und Sie fahren währenddessen zum Polizeiposten zurück und suchen mir die Akten der weggelaufenen Jugendlichen heraus.“

      Sarah fuhr John zurück zum Motel und ließ ihn dort aussteigen.

      „Ich komme dann so gegen 16 Uhr auf dem Polizeiposten vorbei. Denken Sie, dass Sie bis dahin die Akten gefunden haben?“

      Sarah nickte. „Ja, ich denke schon. Bis später dann.“

      John begab sich in sein Motelzimmer und setzte sich auf das Bett. Er holte seinen Notizblock aus der Manteltasche und kritzelte einige Zeilen in das Büchlein. Er wirkte dabei etwas fahrig, doch nachdem er fertig war und den Notizblock beiseitegelegt hatte, schien es so, als würde er sich besser fühlen. Dann stand er auf, verließ das Zimmer, stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg zum Onkel und zur Tante von Susan. Einen kleinen Umweg nahm er aber noch in Kauf, denn er wollte das Haar, das er auf Susans Bett gefunden hatte, überprüfen lassen. Er schickte es einem alten Freund, der noch immer bei Scotland Yard arbeitete, für eine DNA-Analyse. Nachdem er beim Postamt den Brief aufgegeben hatte, fuhr er in die Richtung des Anwesens der Sterlings, denn das Haus des Onkels lag nur wenige Kilometer davon entfernt. Gerade hatte er das Anwesen der Sterlings passiert, als er auch schon das blaue Herrenhaus, so wie es ihm Sarah geschildert hatte, sah. Und die Farbe war wirklich