Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Karl Philipp Moritz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Philipp Moritz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159619439
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und es doch in dem andern nie weit brachte.

      Dies beständige Hin-und-her-Schwanken ist zugleich ein Bild von dem ganzen Lebenslaufe seines Vaters, dem es im funfzigsten Jahre seines Lebens noch nicht besser ging, und der doch immer noch das Rechte zu finden hoffte, wornach er so lange vergeblich gestrebt hatte.

      Mit Anton war es anfänglich ziemlich gut gegangen: allein seitdem er kein Latein mehr lernen sollte, litte seine Frömmigkeit einen großen Stoß; sie war nichts, als ein ängstliches, gezwungenes Wesen, und es wollte nie recht mit ihm fort.

      Er las darauf irgendwo, wie unnütz und schädlich das Selbstbessern sei, und dass man sich bloß leidend verhalten, und die göttliche Gnade in sich würken lassen müsse: er betete daher oft sehr aufrichtig: »Herr bekehre du mich, so werde ich bekehret!« aber alles war vergeblich.

      Sein Vater reiste diesen Sommer wieder nach P[yrmont], und Anton schrieb ihm, wie schlecht es mit dem Selbstbessern vorwärtsginge, und dass er sich wohl darin geirrt habe, weil die göttliche Gnade doch alles tun müsse.

      Seine Mutter hielt diesen ganzen Brief für Heuchelei, wie er denn wirklich nicht ganz davon frei sein mochte, und schrieb eigenhändig darunter: »Anton führt sich auf, wie alle gottlose Buben.«

      Nun war er sich doch eines wirklichen Kampfes mit sich [57]selbst bewusst, und es musste also äußerst kränkend für ihn sein, dass er mit allen gottlosen Buben in eine Klasse geworfen wurde.

      Dies schlug ihn so sehr nieder, dass er nun wirklich eine Zeitlang wieder ausschweifte, und sich mutwillig mit wilden Buben abgab; worin er denn durch das Schelten und sogenannte Predigen seiner Mutter noch immer mehr bestärkt wurde: denn dies schlug ihn immer noch tiefer nieder, so dass er sich oft am Ende selbst für nichts mehr, als einen gemeinen Gassenbuben hielt, und nun um desto eher wieder Gemeinschaft mit ihnen machte.

      Dies dauerte, bis sein Vater von P[yrmont] wieder zurückkam.

      Nun eröffneten sich für Anton auf einmal ganz neue Aussichten.

      Schon zu Anfange des Jahres war seine Mutter mit Zwillingen niedergekommen, wovon nur der eine leben blieb, zu welchen ein Hutmacher in B[raunschweig], namens L[obenstein], Gevatter geworden war.

      Dieser war einer von den Anhängern des Herrn von F[leischbein], wodurch ihn Antons Vater schon seit ein paar Jahren kannte.

      Da nun Anton doch einmal bei einem Meister sollte untergebracht werden, (denn seine beiden Stiefbrüder hatten nun schon ausgelernt, und jeder war mit seinem Handwerke unzufrieden, wozu er von seinem Vater mit Gewalt gezwungen war) und da der Hutmacher L[obenstein] gerade einen Burschen haben wollte, der ihm fürs Erste nur zur Hand wäre: welch eine herrliche Türe eröffnete sich nun, nach seines Vaters Meinung, für Anton, dass er ebenso, wie seine beiden Stiefbrüder, bei einem so frommen Manne, [58]der dazu ein eifriger Anhänger des Herrn von F[leischbein] war, schon so früh könne untergebracht, und von demselben zur wahren Gottseligkeit und Frömmigkeit angehalten werden.

      Dies mochte schon länger im Werk gewesen sein, und war vermutlich die Ursach, warum Antons Vater ihn aus der lateinischen Schule genommen hatte.

      Nun aber hatte Anton, seitdem er Latein gelernet, sich auch das Studieren fest in den Kopf gesetzt; denn er hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte und einen schwarzen Rock trug, so dass er diese Leute beinahe für eine Art übermenschlicher Wesen hielt.

      Was war natürlicher, als dass er nach dem strebte, was ihm auf der Welt das Wünschenswerteste zu sein schien?

      Nun hieß es, der Hutmacher L[obenstein] in Braunschweig wolle sich Antons, wie ein Freund, annehmen, er solle bei ihm wie ein Kind gehalten sein, und nur leichte und anständige Arbeiten, als etwa Rechnungen schreiben, Bestellungen ausrichten, u. dgl. übernehmen, alsdann solle er auch noch zwei Jahre in die Schule gehen, bis er konfirmiert wäre, und sich dann zu etwas entschließen könnte.

      Dies klang in Antons Ohren äußerst angenehm, insbesondre der letzte Punkt von der Schule; denn wenn er diesen Zweck nur erst erreicht hätte, glaubte er, würde es ihm nicht fehlen, sich so vorzüglich auszuzeichnen, dass sich ihm zum Studieren von selber schon Mittel und Wege eröffnen müssten.

      Er schrieb selber zugleich mit seinem Vater an den Hutmacher L[obenstein], den er schon im Voraus innig liebte, und sich auf die herrlichen Tage freute, die er bei ihm zubringen würde.

      [59]Und welche Reize hatte die Veränderung des Orts für ihn!

      Der Aufenthalt in H[annover], und der ewige einförmige Anblick ebenderselben Straßen und Häuser ward ihm nun unerträglich: neue Türme, Tore, Wälle und Schlösser stiegen beständig in seiner Seele auf, und ein Bild verdrängte das andre.

      Er war unruhig, und zählte Stunden und Minuten bis zu seiner Abreise.

      Der erwünschte Tag war endlich da. Anton nahm von seiner Mutter, und von seinen beiden Brüdern Abschied, wovon der ältere Christian fünf Jahr, und der jüngere Simon, der nach dem Hutmacher L[obenstein] genannt war, kaum ein Jahr alt sein mochte.

      Sein Vater reiste mit ihm, und es ging nun halb zu Fuße, halb zu Wagen, mit einer wohlfeilen Gelegenheit fort.

      Anton genoss jetzt zum ersten Male in seinem Leben das Vergnügen zu wandern, welches ihm in der Zukunft mehr wie zu häufig aufgespart war.

      Je mehr sie sich Braunschweig näherten, je mehr war Antons Herz voll Erwartung. Der Andreasturm ragte mit seiner roten Kuppel majestätisch hervor.

      Es war gegen Abend. Anton sahe in der Ferne die Schildwache auf dem hohen Walle hin- und hergehen.

      Tausend Vorstellungen, wie sein künftiger Wohltäter aussehen, wie sein Alter, sein Gang, seine Mienen sein würden, stiegen in ihm auf und verschwanden wieder.

      Er setzte endlich von demselben ein so schönes Bild zusammen, dass er ihn schon im Voraus liebte.

      Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen oder Städten zu [60]sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlasst zu werden.

      Die Höhe oder Tiefe der Vokale in einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei.

      So klang der Name Hannover beständig prächtig in seinem Ohre, und ehe er es sahe, war es ihm ein Ort mit hohen Häusern und Türmen, und von einem hellen und lichten Ansehen.

      Braunschweig schien ihm länglicht von dunklerm Ansehen und größer zu sein, und Paris stellte er sich, nach eben einem solchen dunklen Gefühle bei dem Namen, vorzüglich voll heller weißlichter Häuser vor.

      Es ist dieses auch sehr natürlich: denn von einem Dinge, wovon man nichts wie den Namen weiß, arbeitet die Seele, sich, auch vermittelst der entferntesten Ähnlichkeiten, ein Bild zu entwerfen, und in Ermangelung aller andern Vergleichungen, muss sie zu dem willkürlichen Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen, wo sie auf die hart oder weich, voll oder schwach, hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Töne merkt, und zwischen denselben und dem sichtbaren Gegenstande eine Art von Vergleichung anstellt, die manchmal zufälligerweise eintrifft.

      Bei dem Namen L[obenstein] dachte sich Anton ohngefähr einen etwas langen Mann, deutsch und bieder, mit einer freien offnen Stirne, usw.

      Allein diesmal täuschte ihn seine Namendeutung sehr.

      Es fing schon an, dunkel zu werden, als Anton mit seinem Vater über die großen Zugbrücken, und durch die gewölbten Tore in die Stadt B[raunschweig] einwanderte.

      Sie kamen durch viele enge Gassen, vor dem Schlosse [61]vorbei, und endlich über eine lange Brücke in eine etwas dunkle Straße, wo der Hutmacher L[obenstein] einem langen öffentlichen Gebäude gegenüber wohnte.

      Nun standen sie vor dem Hause. Es hatte eine schwärzliche Außenseite, und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war.

      Oben hing ein Schild mit einem Hute heraus, woran der Name L[obenstein] zu lesen war.

      Ein altes Mütterchen, die Ausgeberin vom Hause,