Erinnerungen an Lenin. Clara Zetkin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Zetkin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966512145
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es mir in der Erinnerung daran durch den Sinn, als ich mit heißem Kopf durch die kühle Nacht nach Hause fuhr. Und es gibt Leute, die diesen Mann für eine kalte Verstandesmaschine halten, für einen starren Formelfanatiker, der die Menschen nur als »historische Kategorien« kennt und mit ihnen fühllos wie mit Kügelchen rechnet und spielt. Lenins Äußerungen bewegten mich so stark, daß ich sie in ihren Grundzügen sofort aufzeichnete, ähnlich, wie ich während meines ersten Aufenthaltes auf Sowjetrußlands revolutionsheiligem Boden tagtäglich alles notierte, was mir bemerkenswert erschien.

      Unauslöschlich ist meiner Erinnerung ein anderes Gespräch mit Lenin eingegraben. Ich hatte, wie viele, die zu jener Zeit aus dem Westen nach Moskau kamen, dem Wechsel der Lebensweise meinen Tribut zu zahlen und mußte das Bett hüten. Lenin besuchte mich. Fürsorglich, wie die beste Mutter, erkundigte er sich, ob ich entsprechende Pflege und Ernährung, gute ärztliche Behandlung usw. habe und was meine Wünsche seien. Ich sah hinter ihm Genossin Krupskajas liebe Gestalt. Lenin zweifelte daran, daß alles so gut und so herrlich sei, wie ich es empfand. Besonders regte er sich darüber auf, daß ich im vierten Stockwerk eines Sowjethauses wohnte, »das zwar theoretisch einen Lift hat, der jedoch praktisch nicht funktioniert. Genau wie die Liebe und der Wille der Kautskyaner zur Revolution«, meinte Lenin sarkastisch. Bald lenkte das Schifflein unseres Gespräches in das politische Fahrwasser ein.

      Der Rauhfrost des Rückzugs der Roten Armee aus Polen hatte die revolutionären Blütenträume nicht reifen lassen, die wir und viele mit uns gehegt hatten, als die Sowjettruppen in einem blitzartig raschen und kühnen Vorstoß bei Warschau gestanden waren. Ich schilderte Lenin, wie es auf die revolutionäre Vorhut des deutschen Proletariats gewirkt hatte, wie auf die Scheidemänner und Dittmänner, wie auf die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, als die Rotarmisten mit dem Sowjetstern an der Mütze, in unmöglichen alten Uniformstücken und Zivilkleidern, mit Bastschuhen oder zerrissenen Stiefeln ihre kleinen, flinken Rosse dicht an der deutschen Grenze tummelten. »Werden sie oder werden sie nicht Polen besetzt halten und über die Grenze kommen, und was dann?« Das waren die Fragen, die damals in Deutschland die Gemüter erhitzten und bei deren Beantwortung die Bierbankstrategen verblüffend großartige Schlachten schlugen. Es zeigte sich dabei, daß in allen Klassen, in allen sozialen Schichten weit mehr chauvinistischer Haß gegen das weißgardistische, imperialistische Polen vorhanden war als gegen den französischen »Erbfeind«. Allein, stärker, zwingender als der chauvinistische Haß gegen Polen und als die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Versailler Vertrags war die Furcht vor dem Ausblick auf die Revolution. Vor ihr verkroch sich der wortgewaltige Patriotismus wie der sanft säuselnde Pazifismus in die Büsche. Bourgeoisie und Kleinbürgertum mitsamt ihrer reformistischen Gefolgschaft aus dem Proletariat sahen so mit einem lachenden und einem weinenden Auge die spätere Entwicklung der Dinge in Polen.

      Lenin hörte aufmerksam zu, was ich ihm dazu und über das Verhalten der Kommunistischen Partei wie der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer im einzelnen berichtete. Er saß dann einige Minuten schweigend da, in Nachsinnen versunken. »Ja«, sagte er endlich, »es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen mußte. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, daß unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie mußte Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pilsudski- und Daszynski-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot.

      Unser Budjonny ist heute gewiß der glänzendste Reiterführer der Welt. Natürlich ein Bauernjunge, das wissen Sie doch? Er trug wie die Soldaten der französischen Revolutionsheere den Marschallstab im Tornister, in seinem Fall in der Satteltasche. Er besitzt kein schweres kriegswissenschaftliches Gepäck, aber einen ausgezeichneten strategischen Instinkt. Er ist mutig bis zur halsbrecherischen Tollkühnheit, bis zur vermessenen Unbesonnenheit. Er teilt die härtesten Entbehrungen und schwersten Gefahren mit seinen Reitern, und sie würden sich für ihn in Stücke hauen lassen. Er allein ersetzt uns ganze Schwadronen. Aber alle Vorzüge Budjonnys und anderer revolutionärer Heerführer konnten unsere Nachteile in militärischer und technischer Hinsicht nicht ausgleichen, noch weniger unseren politischen Rechenfehler: die Hoffnung auf die Revolution in Polen ...

      Wissen Sie, daß in der Partei der Friedensschluß mit Polen zuerst auf starken Widerstand gestoßen ist? Ähnlich wie der Friedensschluß zu Brest-Litowsk. Ich wurde auf das heftigste bekämpft, weil ich für die Annahme der Friedensbedingungen war, die unzweifelhaft sehr günstig für die Polen, hart für uns sind. Fast alle unsere Sachverständigen behaupteten, daß angesichts der Situation in Polen, insbesondere angesichts der miserablen Finanzlage dort, weit vorteilhaftere Friedensbedingungen für uns zu erreichen gewesen wären, wenn wir nur noch einige Zeit im Kriege ausgehalten hätten. Sogar ein voller Sieg unsererseits wäre dann nicht ausgeschlossen gewesen. Bei Fortdauer des Krieges würden die nationalen Gegensätze und Konflikte in Ostgalizien und anderen Landesteilen die militärische Kraft des offiziellen, imperialistischen Polens erheblich schwächen. Trotz der Subventionen und Kredite aus Frankreich würden die steigenden Kriegslasten und das Finanzelend doch schließlich die Bauern und Arbeiter mobilisieren. Noch andere Umstände wurden dafür angeführt, daß wir bei Weiterführung des Krieges immer bessere Chancen bekämen.

      Ich glaube selbst«, spann Lenin nach kurzer Pause den Faden seiner Gedanken weiter, »daß wir durch unsere Lage nicht gezwungen waren, um jeden Preis Frieden zu schließen. Wir konnten den Winter über durchhalten. Aber ich hielt es politisch für klüger, dem Feind entgegenzukommen, und die zeitweiligen Opfer des harten Friedens erschienen mir billiger als die Fortdauer des Krieges. Auf die Dauer gewann unser Verhältnis zu den Polen dadurch. Die pazifistischen Losungen sind natürlich Flausen, nichts weiter als Flausen. Sie vertrauen auf Wrangel. Wir aber werden den Frieden mit Polen ausnutzen, um uns mit aller Kraft auf Wrangel zu stürzen und ihn so vernichtend zu schlagen, daß wir für immer Ruhe vor ihm haben. In der gegenwärtigen Situation hat Sowjetrußland nur zu gewinnen, wenn es durch sein Verhalten beweist, daß es nur Krieg führt, um sich zu verteidigen, die Revolution zu schützen; daß es der einzige große Friedensstaat der Welt ist; daß ihm jede Absicht fernliegt, Land zu rauben, Nationen zu unterjochen, sich in imperialistische Abenteuer zu stürzen. Vor allem aber: Durften wir ohne die allerzwingendste Notwendigkeit das russische Volk den Schrecken, den Leiden eines weiteren Kriegswinters preisgeben? Unsere heldenmütigen Rotarmisten an den Fronten, unsere Arbeiter und Bauern, die soviel entbehrt und geduldet! Nach den Jahren des imperialistischen Krieges und des Bürgerkrieges ein weiterer Kriegswinter, wo Millionen hungern, frieren, stumm verzweifelnd sterben! Lebensmittel und Kleider werden jetzt schon knapp. Die Arbeiter klagen, die Bauern murren, daß man ihnen nur nimmt, nicht gibt. – Nein, der Gedanke an die Qualen eines Kriegswinters mehr war unerträglich. Wir mußten Frieden schließen.«

      Während Lenin so sprach, war sein Gesicht vor meinen Augen zusammengeschrumpft. Furchen, große und kleine, ohne Zahl, gruben sich tief hinein. Und jede Furche war von einer schweren Sorge oder von einem nagenden Schmerz gezogen. Ein Ausdruck unausgesprochenen und unsäglichen Leidens lag auf Lenins Gesicht. Ich war ergriffen, erschüttert. Vor meiner Seele stand das Bild eines gekreuzigten Christus des mittelalterlichen Meisters Grünewald. Ich glaube, daß dieses Gemälde unter der Bezeichnung bekannt ist: »Der Jammermann«. Grünewalds Gekreuzigter hat keine Spur von Ähnlichkeit mit Guido Renis berühmtem süßen, verzeihenden Dulder, für den als »Seelenbräutigam« so viele ältere Mädchen und unglücklich verheiratete Frauen schwärmen. Grünewalds Gekreuzigter ist der grausam zu Tode Gemarterte und Gequälte, der »der Welt Sünden trägt«. Als solchen »Jammermann« sah ich Lenin vor mir, belastet, durchbohrt von dem Gedanken an die Leiden und Opfer, die das russische Volk der Arbeit im Kampfe für seine Freiheit trug, tragen mußte, damit es über seine tückischen, skrupellosen Feinde triumphiere. Er ging bald darauf fort. Unter anderem hatte er mir noch mitgeteilt, daß zehntausend Lederanzüge, fest schließend, in Auftrag gegeben seien für die Rotarmisten, die vom Meere aus den Perekop Befestigte Landenge, welche die Krim mit der Ukraine verbindet. Die Red.nehmen