Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roger Schöntag
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303480
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die bei den Römern nicht zur Literatur sensu strictu gehörte, die Fabel, wurde von Phaedrus (Φαῖδρος, 1. Jh. n. Chr.), einem Freigelassenen griechischer Herkunft, erstmals in lateinischer Sprache etabliert. Vorbild für die von Phaedrus im der Komödie nahestehenden altertümlichen Versmaß des Senaren nachgedichteten, sich durch ihre brevitas auszeichnenden Tierparabeln mit gesellschaftskritischen Unterton und bisweilen moralisierender Tendenz (cf. Promythien, Epimythien) sind die Fabeln von Äsop (Αἴσωπος, 6. Jh. v. Chr.) (cf. Baier 2010:79–80). Im Zuge der aemulatio entfernt sich Phaedrus dabei zunehmend von seinem Modellautor und übernimmt nach und nach weniger Motive und programmatische Schlußfolgerungen (cf. Kleine Pauly 1964 I:199). Auch wenn innerhalb der römischen Literatur die Rezeption eher verhalten ist und eine Nachwirkung erst in neuzeitlichem europäischen Kontext einsetzt (La Fontaine, Lessing), ist die Erweiterung der lateinischen Prosa um ein weiteres Genre sprachwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als hier neue diskurstraditionelle Bereiche mit bestimmten Versprachlichungsstrategien (d.h. unterschiedlichen stilistischen Mitteln) erschlossen werden (cf. Baier 2010:79–80).

      Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf verwiesen, daß alle bisher aufgezählten Textgattungen in der römischen Literatur bisher nicht zum Tragen kamen, also neue Formen und Inhalte mit der lateinischen Sprache ausgedrückt wurden.

      In der Periode des klassischen Lateins wurden aber auch in Ansätzen bereits existierende Textgattungen weiter ausgebaut. Dies gilt beispielsweise für das Epos als die literarische Form mit dem größten Prestige, welches durch die Aeneis von Vergil ihren unbestreitbaren Höhepunkt erfuhr. Aus einer ex post Perspektive läßt sich konstatieren, daß der größte römische Dichter den größten griechischen zum Vorbild nahm. Ganz im Sinne der interpretatio Romana gibt Vergil den Römern ein Identifikationswerk in geschliffenen Hexametern mit Elementen der Ilias (Ἰλιάς) und Odysee (Ὀδύσσεια) von Homer ( Ὅμηρος, ca. 7./8. Jh. v. Chr.). In der Nachfolge von Vergil dichten Lukan (Marcus Annaeus Lucanus, 39–65 n. Chr.), der neben kleineren Dichtungen (Iliaca, Orpheus, Silvae), das Epos Pharsalia (bellum civile) über den Bürgerkrieg schreibt, unter anderem Silius Italicus (Tiberius Catius Asconius Silius Italicus, ca. 25–100 n. Chr., Punica) und Statius, der mit seiner Thebais antithetisch an die Aeneis anknüpft (cf. Baier 2010:17–27).

      Die Satire, die bereits in altlateinischer Zeit von Lucilius gepflegt wurde (v. supra), erfährt mit den saturae des Horaz ihre sprachliche und literarische Vollendung. Auch wenn er auf ein römisches Vorbild zurückgreifen kann, bleibt der Rekurs auf die griechische Tradition bestehen – so knüpft er beispielsweise an die kynische Diatribe im Stile des Bion von Borythenes (Βίων Βορυσθενίτης, ca. 335–252 v. Chr.) an. Satirendichtung betreiben im Folgenden auch Persius Flaccus (Aulus Persius Flaccus, 34–62 n. Chr.) und Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis, ca. 67–127 n. Chr.), wobei insbesondere letzterem nicht zuletzt durch einige bonmots (z.B. panem et circenses, 10, 81; mens sana in corpore sano, 10, 356; difficile est satiram non scribere, I, 30) eine nicht unerhebliche Nachwirkung beschieden war. Eine dezidierte Anknüpfung an die Menippeische Satire, mit der sich schon Varro (Marcus Terentius Varro, 116–27 v. Chr.) beschäftigt hat (De compositione saturarum), findet sich dann bei Seneca (d.J.) in seiner Apocolocyntosis Divi Claudii. Auch wenn die Textgattung der Satire keine „Erfindung“ der Römer war, bekam sie in der lateinischen Sprache und Literaturtradition doch eine ganz eigene Ausformung und Prägung, so daß Quintilian sie schließlich pointiert ganz vereinnahmen kann: „Satura quidem tota nostra est […]“ (Inst. orat. X, 1, 93; 2001 IV:302) (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:677–679; Baier 2010:56–58).

      In den Bereichen, die man im weiten Sinne der Wissenschaft zuordnen kann und die in der Periode des Altalteins bereits Werke in lateinischer Sprache gezeitigt haben, ist für die Epoche des Klassischen Lateins ein weiterer intensiver Ausbau dieser Diskurstraditionen zu konstatieren.

      So erlebt die Geschichtsschreibung eine Blüte mit zentralen Autoren wie Sallust (Gaius Sallustius Crispus, 86–35 v. Chr., Bellum Catilinae, Bellum Iugurthinum, Historiae) Livius (Titus Livius, 64/59 v. Chr.-12/17 n. Chr., Ab urbe condita libri), Tacitus (Publius Cornelius Tacitus, ca. 56–120 n. Chr., Annales, Historiae) und Sueton (Cornelius Suetonius Tranquillus, ca. 70–140 n. Chr., De vita Caesarum, De viris illustribus). Letzterer steht hierbei zwischen Historiographie und biographischer Literatur.203 Neue, sozusagen römische Wege beschreitet hierbei Caesar (Gaius Iulius Caesar, 100–44 v. Chr.), der mit seinen commentarii eine ganz eigene Art von Hybridwerk zwischen militärischem Bericht, historischer Darstellung und autobiographischer204 Rechtfertigung schafft, auch mit einem sehr eigenen spezifischen sprachlichen Duktus (cf. Baier 2010:93–94).

      Die Rechtsprechung zeitigt wichtige Werke von Autoren wie Gaius (ca. 120–180 n. Chr.) mit seinen Institutiones oder Papinian (Aemilius Papinianus, 142–212 n. Chr.) mit den Quaestiones, um nur eine Auswahl zu nennen (cf. Albrecht 2012 II:1294). Gerade in diesem Wissenschaftsbereich, der eng an eine Praxis geknüpft ist, beginnt in der Kaiserzeit eine Diskurstradition sich vollständig zu konstituieren, die dann über die Spätantike eine enorme Nachwirkung in Europa erlebt.

      Im Bereich der Philosophie sind vor allem Cicero mit zahlreichen Schriften (Hortensius, Academici libri, De finibus bonorum et malorum, De officiis, Tusculanae Disputationes), auch zur Religion (De natura deorum, De divinatione), und Seneca (Dialogi, Ad Marciam de consolatione, De vita beata, De providentia, De beneficiis) zu nennen (cf. Baier 2010:85–92, 111–116). Ein Universalgelehrter war Varro, der als Diskurstradition die Grammatikographie neu für die lateinische Sprache erschloß (De lingua latina). In den von ihm postulierten Kategorien blieb er eng angelehnt an die erste Grammatik des europäischen Kulturkreises von Dionysios Thrax (Διονύσιος ὁ Θρᾷξ, ca. 180/170–90 v. Chr., Τέχνη γραμματική). Einen neuen Wissenschaftsbereich erschloß Vitruv (Marcus Vitrvius Pollio, 1. Jh. v. Chr.) mit seinem Opus De architectura, welches vor allem in der Renaissance ein breite Rezeption (und Umsetzung) erfuhr. Die Naturwissenschaft erlebt in der Naturalis historia des älteren Plinius (Gaius Plinius Secundus, 23/24–79 n. Chr.) eine umfangreiche Darstellung zahlreicher Subdisziplinen in lateinischer Sprache (cf. Baier 2010:120–122).205

      Aus soziolinguistischem Blickwinkel ist die Frage nach dem Ausbau der Sprache hier zentral und damit eng zusammenhängend nach dem Vorrücken in verschiedene diskurstraditionelle Bereiche. Literarische Textgattungen sind wie andere Textsorten auch (z.B. Gebrauchstexte), Teil des Spektrums der schriftlichen Diskurstraditionen und damit ein Indikator für den sprachlichen Ausbau. In diesem Sinne ist das Erschließen von neuen diskurstraditionellen Bereichen für das Lateinische (cf. zahlreiche lyrische Formen, fachwissenschaftliche Teilgebiete), indem vor allem auf bereits existierende griechische Modelle rekurriert wurde, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vollausgebauten Sprache. Dieser Status ist am Ende der klassischen bzw. nachklassischen Zeit für das Lateinische erreicht.

      Die Unterscheidung „klassische Phase“ und „nachklassische Phase“ wird aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hier fallengelassen und – wie bereits eingangs festgelegt (v. supra) – unter dem Aspekt des Ausbaus insgesamt sozusagen als „Hochphase der literarischen Produktion“ klassifiziert.

      Rekapituliert man die in dieser wohl produktivsten und innovativsten Epoche entstandene Literatur – und dies ist hier der wichtigste Indikator, da der mündliche Bereich genauso wie der der Gebrauchstexte nur schwer erschließbar bzw. wenig dokumentiert ist –, so zeigt sich, daß für das Lateinische zahlreiche neue Textgattungen erschlossen wurden, diese innovativ verändert und ausgebaut wurden sowie auch neue entstanden. Unabhängig von dem literarischen Gewinn steht hier in erster Linie der sprachliche im Vordergrund, denn durch die Auseinandersetzung mit neuen Formen und Inhalten ergeben sich fast zwangsläufig Innovationen auf den verschiedensten sprachlichen Ebenen (Lexikon, Semantik, Syntax, Stilistik). Die Sprache durchläuft einen Ausbauprozeß durch die Herausforderung, die durch literarische Gattungen gestellt werden, aber auch bei der Versprachlichung von Inhalten, die an