Der erste Schritt auf dem Weg zu mehr tertiärer Bildung ist eine Erhöhung aller drei Maturitätsquoten. Das Buch «Matura für alle»[1] hat diesen Vorschlag 2018 erstmals formuliert. Die gymnasiale Maturitätsquote soll erhöht und die Berufsmaturität flächendeckend eingeführt werden. Auch die Fachmaturität soll ausgebaut werden. Im Jahr 2030 soll die gymnasiale Maturitätsquote 30 Prozent betragen, Tendenz steigend. Die Berufsmaturität soll bis zum Jahr 2030 fester Bestandteil der neuen Lehre werden und ihre Quote soll 50 Prozent betragen. Die Fachmaturitätsquote beträgt dann 10 Prozent. Auch knapp 10 Prozent beträgt der Anteil Abschlüsse für Personen, die besondere Förderung brauchen, etwa Berufsatteste. Bis ins Jahr 2050 soll das Verhältnis der gymnasialen Maturitätsquote einerseits und der Berufs- und Fachmaturitätsquote andererseits etwa im Gleichgewicht sein. Es soll je knapp 50 Prozent betragen.
Die Skizze eines neuen Schweizer Bildungssystems, die hier gezeichnet wird, berücksichtigt die Schweizer Besonderheiten und entwirft eine massgeschneiderte Lösung für unser Land. Sie ist, wie wir das hierzulande schätzen, pragmatisch. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bildungsinitiative kann ganz unauffällig aussehen, typisch schweizerisch. Es braucht keine Pauken und Trompeten. Es braucht keine Kehrtwende, kein plötzliches Herumwerfen eines Steuers. Es geht darum, auf bestehende Strukturen aufzubauen. Der Ausbau des dualen Wegs seit den Neunzigerjahren ist bereits der eigentliche Anfang. Es gilt, künftig wieder beide Bildungswege, den akademischen und den dualen, gemeinsam zu fördern.
Was derzeit fehlt, ist eine übergeordnete Perspektive auf die Bildung auf struktureller Ebene. Die meisten Protagonist*innen, welche die Schweizer Bildungspolitik gestalten, gehören ins eine oder andere Lager, entweder ins duale oder ins akademische. Sie ermahnen die Exponenten des jeweils anderen Lagers, sie möchten doch bitte das eine nicht gegen das andere ausspielen. Wirklich ändern wird sich erst etwas, wenn die beiden Lager, die sich derzeit fremd sind, in eine übergeordnete Struktur zusammengeführt werden. Erst ein solches übergeordnetes Gremium kann die verschiedenen Partikularinteressen vertreten, gleichzeitig relativieren und ausgleichen. Es hält die Konkurrenzsituation zwischen den Bildungswegen aus und hebt sie in sich auf. Es gewährt keinem Weg einen Vorrang vor dem anderen und überlässt keiner Seite die Definitionsmacht. Erst diese neue Governance definiert, was Schweizer Bildung wirklich ist.
Eine neue Bildungsgovernance hatte schon 2009 ein Weissbuch der Akademien der Wissenschaften gefordert.[2] Die Bildung sollte gemäss diesem Weissbuch auf Bundesebene zusammengeführt werden, eventuell sogar in einem eigenen Departement. Dem Vorschlag konnte man damals nicht viel abgewinnen. Die Kantone wollten und wollen ihre Hoheit über die Bildung nicht an den Bund abgeben. Ein neues Staatssekretariat für Bildung ist ihnen ein Graus. Eine solche Zentralisierung passt auch nicht zur Geschichte der schulischen Bildung in der Schweiz: Volksschulen, Mittelschulen und Universitäten sind seit der Gründung des Bundesstaats kantonal organisiert. Angesichts dieser Verhältnisse ist es nicht zielführend, auf einem neuen Departement oder Staatssekretariat für Bildung zu beharren. Es ist auch nicht nötig. Gegenwärtig entsteht im Zuge der Revision des Gymnasiums eine Neustrukturierung der Governance.[3] Es soll ein neues Gremium innerhalb der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektor*innen EDK entstehen, also innerhalb der kantonalen Hoheit. Dieses neue Gremium führt die schulische Bildung nicht über-, sondern interkantonal zusammen – und es beteiligt den Bund an der neuen Struktur. Die Schweizer Bildung wird damit stärker zusammengeführt – ohne zentralisiert zu werden. Das ist ein gutschweizerischer Kompromiss: Auf der einen Seite gibt es das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, das die Berufsbildung organisiert. Auf der anderen Seite, auf der Seite der Kantone, entsteht derzeit ein gleichwertiges Gegenüber. Das zeigt: Die Bildungsoffensive, die hier skizziert wird, ist ein konkreter Vorschlag, der bereits am Entstehen ist. Die Zeichen der Zeit sind erkannt, auch auf Ebene der Bildungsgovernance.
Warum braucht es eine neue Governance? Nun, seitens der Berufslehre befürchtet man, bei einer Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote die besten Berufslernenden ans Gymnasium zu verlieren. Diese Bedenken sind besonders ausgeprägt in anspruchsvollen Berufen, die von der Digitalisierung stark betroffen sind und viele Berufsmaturand*innen ausbilden. Aus diesem Grund hat man ein weiteres Wachstum des Gymnasiums in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert. Die Bedenken der Akteur*innen der Berufslehre sind verständlich. Es gibt keine einfachen Lösungen. Genau deshalb darf die Scheinlösung nicht darin bestehen, einfach die Gymnasialquote einzufrieren. Man kann in einem sich dynamisch entwickelnden System nicht jahrzehntelang mit einem Status quo weitermachen, der mittlerweile ein Vierteljahrhundert alt ist. Es braucht eine übergeordnete Perspektive, ein sorgfältiges Abwägen zwischen den verschiedenen Partikularinteressen. Das Interesse der Lehre an möglichst guten Berufslernenden ist legitim – doch es gibt auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse daran, die steigende Nachfrage nach universitär gebildeten Fachkräften besser zu decken. Lange wurde in der Schweiz ein Interesse absolut gesetzt: das Ausbilden von hervorragenden Berufsleuten. Das wurde mit Bravour erreicht. Mit Schweizer Berufsleuten kann es kaum jemand aufnehmen, das zeigen unter anderem die Berufsweltmeisterschaften eindrücklich. Diese Verdienste sollen nicht in Abrede gestellt werden. Das Blickfeld muss jedoch ausgeweitet werden, denn es gibt auch eine Nachfrage nach Akademiker*innen. Die müssen wir ebenfalls ausbilden. Es geht nicht, dass man dort die Quote plafoniert. Es geht nicht, dass man sich nur um seinen Garten kümmert, diesen ausgiebig düngt, aber die Augen verschliesst vor dem Mangel im benachbarten Feld.
In einer Demokratie haben Bildungswege auch mit Mehrheitsverhältnissen zu tun. Es gibt mehr Berufsleute als Akademiker*innen, das bleibt für die Politik nicht ohne Folgen. Hier braucht es ein Korrektiv, sonst droht die akademische Bildung einer Diktatur der Mehrheit zum Opfer zu fallen. Es mag absurd klingen, doch heutzutage braucht die akademische Bildung eine Art Minderheitenschutz. Es darf nicht einfach die breite Masse bestimmen, dass die akademische Bildung eingefroren wird – ungeachtet der drängenden Nachfrage, des technologischen Wandels, der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine Erhöhung der Gymnasial- und Akademiker*innenquote gilt zu Unrecht als Bedrohung für die Berufslehre. Wenn schon, ist der akademische Weg bedroht. Lange schon ist dort das dringend nötige Wachstum faktisch verunmöglicht worden. Das ist ein Angriff auf die akademische Bildung, der im öffentlichen Diskurs kaum Platz findet. Noch immer inszeniert man sich seitens der Berufslehre als Opfer, dem die besten Lernenden durch das Gymnasium genommen werden. In diese Opferrolle gehört heute wenn schon der akademische Weg, dem man ein massvolles Wachstum verunmöglicht – vorgeblich zum Schutz der Berufslehre. Man kann sich fragen, wer hier vor wem geschützt werden muss.
Der jahrzehntelange Wachstumsstopp aufseiten des Gymnasiums führt in der Berufslehre zu einer komfortablen Situation. Dank dem Rückstau, der sich dadurch bildet, können sie aus Jugendlichen auswählen, die auch das Gymnasium besuchen könnten. Die Berufslehre hat aus diesem Potenzial viel gemacht, das muss man anerkennen. Der duale Weg hat sich so stark entwickelt, weil viele fähige Leute vorhanden sind. Wenn das Gymnasium wieder moderat wachsen soll, wird das die Berufslehre nicht so stark treffen, wie manchmal behauptet wird. Der Berufslehre stehen immer noch begabte Jugendliche mit viel Potenzial zur Verfügung. Bei derzeit 80 Prozent eines Jahrgangs, die eine Berufslehre machen, ist die Klage über fehlende Talente vor allem Rhetorik. Es leuchtet nicht ein, dass unter einer Grossmehrheit der Jugendlichen nicht genügend Begabte sein sollten für anspruchsvolle Lehren. Die Frage ist, woran die Berufslehre ihre Klagen über fehlende Talente festmacht. Die Frage ist auch, wer der Lehre mal widerspricht. Alle zucken zusammen, wenn die Berufsbildner*innen über Mangel an Lernenden klagen, und gucken vorwurfsvoll rüber zum Gymnasium. Klagen sind immer relativ. Klagen kostet nichts, das können alle Institutionen ganz gut. Diesen haltlosen Klagen gilt es entgegenzutreten. Die Berufslehre muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen. Sie zu bilden, lautet der gesellschaftliche Auftrag.
Was die Lehre in Wirklichkeit zu spüren bekommt, sind nicht fehlende Talente und schon gar nicht die Konkurrenz eines stagnierenden Gymnasiums. Es ist der Upskilling-Prozess. Die Lehren werden anspruchsvoller. Da stösst man an Grenzen, das ist nicht verwunderlich. Die Lösung liegt nicht darin, das Gymnasium zu deckeln. Die Lösung liegt darin, die Bildung den neuen Ansprüchen anzupassen, sprich, auszubauen und nötigenfalls zu verlängern. Es geht nicht darum, Bocksprünge zu vollführen. Es geht um massvolle Bewegungen