Himmel und Hölle. Alexandre Dumas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexandre Dumas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511971
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sich gegen das Gespenst, welche man die Zeit nennt, und das uns mit immer kräftigerer Hand und immer fühlbarer unaufhörlich vorwärts treibt, als wenn unser Leben einen Abhang hinunter ginge und, den Gesetzen der Schwere zu Folge, gegen das Ende hin um vieles rascher als im Anfange. Da wendet man sich weinend rückwärts, und klammert sich an alles an, was man auf dem Wege finden kann. Da aber Alles, was man ergreift, ebenfalls abwärts getrieben wird, so fühlt man, dass jeder Widerstand nutzlos und vergeblich ist, man breitet die Arme aus nach den entfernten Gegenständen, die am Morgen-Horizont glänzen, wie am entgegengesetzten im letzten Flammenglühen der untergehenden Sonne bisweilen die Mauern eines Häuschens leuchten, oder die Fenster eines stolzen Schlosses brennen.

      Das Menschenleben zerfällt in zwei ganz geschiedene Teile: die ersten fünf und dreißig Jahre sind für die Hoffnung, die anderen für die Erinnerung.

      Dann erscheint eine andere Luftspiegelung in der Wüste, die man durchwandert hat, und in welcher die Oasen immer seltener werden; die Gegenstände nämlich, welche dass körperliche Auge im Anfange des Weges erblickte, als man noch mit stolz erhobenem Haupte und mit offenen Armen der Göttin Hoffnung nacheilte, — die Gegenstände, welche man überhaupt am Wege ließ, die man als zu unbedeutend gering achtete, wohl gar verachtete, erscheinen von dem Augenblicke an, da man die Scheidelinie überschritt, nicht mehr durch die Hoffnung, sondern durch die Erinnerung lebt, aber noch immer weiter schreitet, weil man im Leben weiter muss, wenn auch mit gesenktem Haupte und schlaff herabhängenden Armen, — jene Gegenstände also erscheinen allmählich von neuem im Leben der Seele, und da die Seele, die Himmelstochter, sie ganz anders würdigt als sie der Stolz würdigte, ein Erdensohn, so wird ihr Dunkel Licht, ihre Unbedeutendheit Größe, und man liebt, was man verachtete, man bewundert, was man verschmähte.

      Aus diesem Grunde kehre auch ich bisweilen, statt immer vorwärts zu geben, wenn ich neue Menschen und neue seltsame Ereignisse suche, in Gedanken auf jenen vielbetretenen Pfad meiner Jugend zurück, wo ich die Spuren meiner kleinen Füße, meiner kleinen Schritte neben den geliebten Fußstapfen meiner Mutter finde, von dem Tage an, an welchem meine Augen sich öffneten, biss zu jenem, an welchem die ihrigen sich schlossen, und ich traurig, allein und verlassen zurückblieb, wie der junge Tobias, als der Engel gen Himmel gestiegen war, der ihn bis an jenen wunderbaren Fluss geführt hatte, dessen Namen Moses uns zu sagen vergessen hat.

      Heute nun will ich Euch sagen, was ich im Beginne jenes Pfades sehe, etwas jenseits des Dorfes Haramont, am ersten Abhange, über den der Weg immer abwärts nach dem Schlösschen des Fossés führt.

      Zwei Häuschen sind es, die neben dem Wege stehen, nur durch diesen Weg getrennt sind, einander mit Tür und Fenster ansehen, im goldenen Sonnenstrahle einander anlächeln, das eine mit einem Weinstock umkränzt, das andere ganz mit Epheu umkleidet, der das Dach wie mit einem Mantel umhüllt, und dann die Wand bedeckt, wie ein grünes Kleid.

      Zwei Familien bewohnten diese Häuser.

      Eine dieser Familien bestand aus einem siebzigjährigen Manne, einer Frau von acht und dreißig Jahren, seiner Schwiegertochter und einem sechzehnjährigen Burschen, seinem Enkel. Vervollständigt wurde sie durch einen großen Hund von der Race der St. Bernhards-Hunde, durch einen Esel und einen Ochsen.

      Sie bewohnte das Haus an der linken Seite des Weges. Die andere Familie, an Personen eben so zahlreich, an Tieren weniger, bestand aus einer Mutter, deren Tochter und Sohn. Die Mutter war sechs und dreißig, die Tochter sechzehn, der Sohn fünf Jahre alt.

      Eine einzelne Kuh, die im Stalle vor einer nur mit frischem Grase gefüllten Raufe stand, antwortete mit ausgestrecktem Hals blökend ihrem Nachbar, dem Ochsen, so oft es diesem gefiel sich brüllend nach ihrem Befinden zu erkundigen.

      Vielleicht wundert sich der Leser, besonders wenn er ein Städter ist, und das patriarchalische Landleben nicht selbst mitgelebt hat, dass ich einen Hund, einen Esel, einen Ochsen, eine Kuh als Glieder einer christlichen Familie mit aufführe. Da antworte ich: Freund, Sie sind zu streng gegen die Niedrigen der Schöpfung; ich weiß wohl, dass der Segen der Kirche sie nicht erreicht; dass sie als Heiden und Unreine außerhalb des christlichen Gesetzes stehen; dass der Gott-Mensch, der für die Menschen gestorben ist, für sie nicht gestorben ist; aber erinnern Sie sich, dass der Orient den Glauben hegt, das Tier sei eine schlafende oder verzauberte Seele; erinnern Sie sich, wie nach dem Glauben Indiens, jener ernsten, majestätischen Mutter unseres streitsüchtigen Abendlandes, die Poesie dem ersten Dichter offenbart worden ist: er sah gedankenvoll zwei Tauben fliegen, er bewunderte die Anmut ihres Fluges und die Schnelligkeit ihrer Liebesverfolgung, — mit einem Male fliegt ein Pfeil von einer versteckten Hand, pfeift durch die Luft und trifft eine der Tauben; da vergießt er Tränen des Mitleides, sein Wehklagen, das sich nach dem Schlagen seines Herzens, misst, erhält eine rhythmische Bewegung, die Poesie entsteht, und seit diesem Tage fliegen die Verse, melodische Tauben, Paarweise über die ganze Erde. — Denken Sie an Virgil, den zarten, tiefsinnigen Dichter, und hören Sie ihn, wenn er den Bürgerkrieg beweint, welcher die väterlichen Felder entvölkert, wenn er die Hirten beklagt, die ihre lieblichen Wiesen verlassen müssen; — hat er in seinem so viel Unglück umfangenden Mitleiden nicht auch eine Träne für die großen langgehörnten weißen Rinder, deren verschwundene Geschlechter Italien befruchtet haben? Hören Sie ihn, wenn er die Schmerzen des Dichtere Gallus, seines Freundes, beklagt, — zeigt er ihm nicht hinter den Göttern, die er herbei führt um ihn zu trösten, auch seine Schafe, die traurig blöckend um ihn her stehen, und ruft er nicht aus in der melodischen Sprache, um derentwillen er der Schwan von Mantua genannt worden ist: »die demütigen Schafe achten Dich nicht gering, verschmähe Du sie auch nicht, göttlicher Dichter!«

      Gehen Sie dann aus dem Altertum in das Mittelalter über, und erinnern Sie sich der reizenden Sage von der Genoveva von Brabant. Die Gattin wird auf die Anklage eines Verräters durch den Gatten verstoßen zugleich mit dem Kinde, das in Schuld geboren sein soll; eine Hirschkuh leiht ihre Höhle der Mutter, und gibt ihre Milch dem Kinde; da8 Tier vergisst, dass es durch den Stolz des Menschen aus der großen Menschenfamilie ausgestoßen worden ist, und nimmt die Familie auf. Eine schuldlose Hirschkuh rettet die schuldlose Mutter mit dem schuldlosen Kinde.

      Die Hilfe kommt von dem Niedrigen, die Rettung von dem Kleinen. Denken Sie an jenes Manuskript, das uns lehrt, wie wir die flüchtigen Bienen zurück zu rufen haben, und sagen Sie mir, ob jemals eine führendere, sanftere Bitte an ein verständiges Wesen gerichtet worden ist, als dies Gebet an die Königin des kleinen geflügelten Reiches: »Ich beschwöre Dich, Mutter der Bienen, bei Gott, dem Könige des Himmels und bei dem Erlöser der Erde, Gottes Sohne, ich beschwöre Dich nicht hinweg zu fliegen, und so schnell als möglich zu deinem Baum zurückzukommen; dort wirst Du Dich mit deinen Kindern und Gefährten zusammentun, dort werdet ihr ein von mir bereitetes gutes Gefäß finden, und im Namen des Herrn arbeiten.«

      Der Landmann denkt nicht wie Sie Städter. Die Tiere haben in der Familie des Bauern ihren Platz unmittelbar nach dem Jüngstgebornen der Familie, wie in den adeligen sächsischen Häusern die weitläufigen Verwandten unten am Tische. In der Bretagne haben sie heute noch ihren Teil an der Freude wie an der Trauer der Familien: bei der Freude bekränzt man sie mit Blumen, bei der Trauer ums hüllt man sie schwarz.

      Betrachten Sie doch das kluge Aussehen Einiger, das sanfte, träumerische Anderer; erkennen Sie nicht, dass ein großes Geheimnis zwischen ihnen und dem Herrn besteht, ein Geheimnis, das das Altertum vielleicht an dem Tage erkannte, als Homer die Fabel von der Circe schrieb? Will nicht der Rabe mit dem melancholischen Gekrächze, der drei Jahrhunderte lebt, d. h. vier Menschenalter, durch diese Stimme von der Vergangenheit sprechen, die traurig und dunkel war wie sein Gefieder? Hat und die Schwalbe, die aus dem Süden kommt, von den großen Wüsten nichts zu verkünden, in welche der Fuß des Menschen nicht zu dringen vermag, und die ihr Flug durchmaß? Wissen der Adler, der in der Sonne fliegt, und die Eule, die im Dunkeln steht, nicht besser als wir, was geschieht, der erste in der Welt des Tages, die zweite in der Welt der Nacht? Könnte endlich der große Stier, welcher unter dem Eichbaume das blass grüne Gras abweidet, so lange sinnend da stehen und klagend jammern, wenn ihm nicht ein Gedanke durch den Kopf ginge, wenn er nicht vielleicht gegen Gott sich über die Undankbarkeit des Menschen beklagte, seines älteren Bruders, der ihn verkennt?

      Betrachten Sie einmal neben einander ein junges