Was hier geschieht, ist „beruhigende Gewissheit“ (12) und könnte elementarer nicht sein: „Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein und erfüllte das eigene Maß“ (12). „Ich muss alle meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt, dass ich … lerne: zu leben“ (15). Die Frühjahrsgötter Tipasas schenken ihrem verlorenen Sohn den Segen des bedingungslosen Angenommenseins. Die Natur oder, wie Camus viele Jahre später schreiben wird, „der alte, bemooste Gott, den nichts erschüttert, (wird) Zuflucht und Hafen seinen Söhnen, deren ich einer bin“10.
Eine solche Erfahrung ruft nach Wiederholung und Erneuerung. Deshalb ist Camus nach dem 2. Weltkrieg mit all den Verletzungen und Abgründen, die dieser Vernichtungskrieg hervorgerufen hatte, noch zweimal nach Tipasa zurückgekehrt. Er hoffte so sehr, nochmals erleben zu können, was er damals erlebt hatte. Doch der erste Besuch bei strömendem Regen misslingt. Erst beim zweiten stellt sich die ersehnte Erfahrung erneut ein. Camus erlebt das Stehenbleiben der Zeit, den ewigen Augenblick des nunc stans: „Der Morgen schien erstarrt, die Sonne stand für einen Augenblick still. In diesem Licht und in diesem Schweigen zerrannen langsam die Jahre der Raserei und der Nacht. Ich lauschte in mir einem fast vergessenen Klang, als finge mein Herz nach langem Stillestehen ganz sachte wieder zu klopfen an. Und nun vernahm ich auch jene unhörbaren Geräusche, aus denen die Stille gewoben ist: das Continuo der Vögel, die leichten, kurzen Seufzer des Meeres am Fuße des Felsen, das Zittern der Bäume, das Rascheln der Sträucher, die flüchtigen Eidechsen. Und ich lauschte auch dem glücklichen Strömen in mir. Es war mir, als sei ich endlich in den Hafen zurückgekehrt, nur für einen Augenblick zwar, der aber nicht enden würde. Gleich darauf stieg die Sonne sichtbar einen Grad höher. Eine Amsel prädulierte kurz, und dann sprühte von allen Seiten der Gesang der Vögel auf, mit einer Kraft, einem Jubeln …“11
Eine Licht- und Erleuchtungserfahrung, die den verlorenen Sohn und die Natur in Resonanz versetzten. Das Herz beginnt wieder zu schlagen, der innere verschüttete Klang ist wieder zu hören und die Sinne nehmen die lebendige Mitwelt wieder wahr. Ein mystisches Erlebnis, das die inneren Kräfte für die kommenden Kämpfe aufs Neue stärkt.
Die Gegenwart der Götter ist spürbar und heilsam, sie löst die Starre und verbindet Camus’ Lebensstrom mit dem seiner Umgebung. Innere und äußere Natur stehen sich nicht länger teilnahmslos gegenüber, sondern fließen ineinander. Das für solche Erfahrungen notwendige Vokabular werden wir später noch genauer erkunden. Von den ergreifenden göttlichen Atmosphären wird noch ausführlich die Rede sein. Für den Moment markiert die erzählte Erfahrung Camus’ den Horizont, auf den wir uns zubewegen. Was immer Menschen in der Natur suchen, welches Vokabular sie dafür auch immer verwenden: Es geht um die Anwesenheit von etwas, das ergreift und betrifft, etwas auslöst und eine neue Verbindung nach innen und außen stiftet.
Praxis: ganz nah
Viel zu oft schauen wir nicht genau hin. Mit einer Lupe unterwegs sein, sich hinhocken oder besser noch sich auf den Boden legen und ganz genau hinschauen.
5.Sprechende Natur
Woran liegt es, dass sich nicht ständig und überall in der Natur solche Erlebnisse und Erfahrungen, wie Camus sie gemacht hat, einstellen? Warum schweigt die Natur so oft?
Die Schriftstellerinnen Juli Zeh und Brigitte Kronauer beschreiben die Umstände, unter denen Natur sich sprechend oder eben auch verschlossen zeigen kann.
„Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutener war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. Kein Mensch konnte sich die steigenden Gas- und Ölpreise leisten. Deshalb kaufte man bei Kathrins Vater ein paar Bäume, schlug sie selbst, sägte sie klein und schob sie im Lauf eines langen Winters in den Ofen. Die meisten männlichen Dorfbewohner konnten verheilte Knochenbrüche oder Narben von Kettensägenverletzungen vorweisen. Der Wald hatte Erik umgebracht und Kron ein Bein zertrümmert. Der Wald war kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt. Man fuhr in den Wald, um Holz zu machen. Oder man suchte Pfifferlinge, für die es in Plausitz gutes Geld gab. Ober beteiligte sich an einer Treibjagd und nahm ein halbes Wildschwein mit nach Hause. Freie Zeit verbrachten die Unterleutener lieber woanders.“ 12
Für die Bewohner des Romans „Unterleuten“ von Juli Zeh ist der Wald ganz sicher kein Ort der Götter. Den „Gott des nördlichen Waldes“ von Paul Klee würde niemand aus Unterleuten suchen gehen. Die Unterleutener gehen in den Wald, um zu arbeiten, sonst nicht. Für sie stellt der Wald lediglich eine Ressource dar, die für den Lebensunterhalt gebraucht wird. Sie nutzen den Wald, arbeiten hart in ihm, um möglichst viel aus ihm herauszuholen, was sie brauchen können: Holz, Pfifferlinge und Wildschweinfleisch. Der Wald zeigt sich dabei von seiner harten und gefährlichen Seite: Er fordert seinen Tribut, er verletzt, zertrümmert Knochen und tötet sogar. Der Ur-Mensch, wie ihn die Unterleutener verkörpern, ist noch ganz im Kampfmodus mit den Naturgewalten. Sie ringen der Natur das Lebensnotwendige ab. In ihrem instrumentellen Verhältnis zum Wald gibt es keine Zeit und keinen Raum für absichtslose und staunende Blicke. Zum Staunen fehlen ihnen Muße und Distanz, die das Sehen und Wahrnehmen braucht. Wie dem Hammer alles zum Nagel, wird den Unterleutenern die Natur zum bloßen Roh- und Verbrauchsstoff.
Darin unterscheidet sich Kathrin, eine junge Frau aus dem Ort, von ihren Mitdorfbewohnern. Sie erfährt den Wald ganz anders. Sie geht im Wald spazieren, erholt sich dort, hockt sich nieder und schaut den Ameisen zu, wie sie ihren Hofstaat errichten. Beobachtend verweilt Kathrin im Wald. „Kathrin stellte eine Ausnahme dar. Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen. Um etwas über den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes oder die Ursache des Seins zu erfahren, genügte es, in die Hocke zu gehen und den Waldboden in Augenschein zu nehmen. Wer einen Ameisenstaat bei der Besiedelung eines Baumstumpfes beobachtete; wer sah, wie Grashalme auf einem Felsblock wuchsen; wer Pilze kannte, die in Grüppchen beisammenstanden wie dünnbeinige Partygäste und gemeinsam einen faulenden Ast verdauten – der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen ‚Stoffwechsel‘ lautete. Kathrin empfand dieses Wissen als beruhigend. Ihr gefiel die Vorstellung, dass die Stoffe, aus denen sie bestand, eines Tages in die Blüte einer Blume oder das glänzende Gefieder eines Vogels eingehen würden.
Kron hatte ihr beigebracht, den Wald zu lesen, lange bevor er selbst Waldbesitzer geworden war. ‚Du musst vor nichts Angst haben, meine Kleine‘, hatte er gesagt, wenn sie wegen eines kleinen Maulwurfs am Wegrand in Tränen ausgebrochen war. ‚Im Wald geht nichts und niemand verloren.‘“ 13
Kathrin erlebt den magischen Wald als lebendiges Gegenüber, „ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte“, und als etwas, das für sie eine Botschaft bereithält. Dabei verbinden sich in Kathrins Haltung Beobachtung, Wissen, Tradition und Sinnstiftung auf eigentümliche Weise. Ihre unterschiedlichen Eindrücke und Beobachtungen münden in eine einzige Antwort: „… der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen ‚Stoffwechsel‘ lautete“. Dieses Wissen um die Natur der Natur, um das Wesen der Natur, empfindet die junge Frau als ‚beruhigend‘, weil sie – ganz im Sinne der Metamorphosen Ovids – die Übergänge von einem Zustand in einen anderen auch auf sich selbst bezieht und sich damit selbst als Teil