Jedes Kind hat es verdient, ohne den Ballast von Vorurteilen in sein Leben zu treten, gefördert zu werden und sich zu entwickeln. Etikettierungen sind selten harmlos, auch wenn sie nicht böse gemeint sind. Jedes Adjektiv, das man benutzt, um das Kind zu beschreiben, beeinflusst unsere Erwartungen und das Potenzial unseres Kindes.
Zu niedrig
„Bryce bekommt Einsen in meinem Unterricht“, sagte mir ein Lehrer beim ersten Elternabend in der Mittelschule. „Er macht alles, was von ihm verlangt wird, liefert die Hausaufgaben pünktlich ab, beteiligt sich lebhaft am Unterricht, und er stört nie.“
Weiter meinte er: „Ich dachte, ich wüsste alles über die Möglichkeiten autistischer Kinder, aber Bryce belehrt mich eines Besseren. Ich hatte schon autistische Kinder im Unterricht. Aber seine kreativen und organisatorischen Fähigkeiten sind viel besser als die der anderen …“
Mitten im Satz hörte er auf. „Ich glaube, ich verstehe es“, sagte er. „Durch dieses Wort schrauben wir unsere Erwartungen runter. Wir erwarten weniger von dem Kind, als es leisten kann. Liege ich da richtig?”
Ja, er hatte es verstanden. Und ein bisher schon guter Lehrer wurde ein noch besserer für alle autistischen Kinder, die nach Bryce zu ihm kamen. Der Lehrer hatte erkannt, dass durch die Etikettierung eines Kindes als ‚autistisch‘ im Kopf eine Schranke entsteht, eine Vorstellung von all dem, was das Kind vermeintlich nicht erreichen kann.
Jede Person, die mit dem Kind zu tun hat, errichtet die Schranke in einer anderen Höhe. Sei sie zu niedrig („Du denkst, ich kann das nicht. Warum soll ich es dann versuchen?“) oder zu hoch („Ich bin nie gut genug. Warum soll ich es dann versuchen?“), wieso sollten wir das Kind zwingen, eine zusätzliche Strecke zu bewältigen, nur damit es unsere schlecht durchdachten Erwartungen erfüllt? Der Weg ist auch so schon weit genug.
Zu hoch
„Heute Autist, morgen Genie“
Als ich dieses Motto auf dem Heck eines vor mir fahrenden SUV sah, dachte ich nur, wenn Stereotypen, auch wenn sie gut gemeint sind, oft genug wiederholt und verbreitet werden, dann sind sie gefährlich. Sie zeichnen ein elitäres klischeehaftes Bild, dem die meisten autistischen Menschen niemals werden entsprechen können. „Heute Autist, morgen Genie“: Durch diesen Slogan ist ein Scheitern der Menschen vorprogrammiert, die eigentlich damit unterstützt werden sollen. Ein Schulleiter9 einer Mittelschule sagte mir einmal, wie sehr es ihn freue, Bryce, ein autistisches Kind, aber eins, das weder ein Genie ist noch ein Verhaltensproblem hat, kennengelernt zu haben. Aber ist es nicht traurig, dass ein erfahrener Lehrer darüber erstaunt war, dass Bryce nicht einem Klischee entspricht? Wenn man die persönlichen oder gesellschaftlichen Erwartungen zu sehr hochschraubt, das autistische Kind als Intelligenzbolzen darstellt, dann läuft man Gefahr, eine realistische Sicht auf die Stärken und Schwächen des eigenen Kindes zu verlieren. Das Kind wiederum wird dann mit einem dauerhaften Gefühl der Unzulänglichkeit durchs Leben gehen. Stellen Sie sich vor, wie die Augen einer ungeduldigen Gesellschaft Sie verfolgen, sie mit den Fingern klopft, darauf wartet, dass sich das Genie offenbart. Ob das Kind nun mit Herausforderungen kämpft oder damit glücklich ist, wie es gerade zurechtkommt, ist dann irrelevant angesichts der vermeintlichen Größe, zu der es werden soll. Und eine (weitere) schwere Last.
Die Mutter eines Sechsjährigen hat mir einmal gesagt, dass die Frage, die sie hinsichtlich seines Autismus am meisten beschäftigt, die nach seinen Begabungen sei. Einige autistische Kinder werden irgendwann zu Genies. Die meisten aber nicht. Einige Menschen, die nicht autistisch sind, werden zu Genies. Die meisten aber nicht. Wir sind es unseren Kindern schuldig, an sie zu glauben, von ihnen überzeugt zu sein, sie zu unterstützen, egal ob sie irgendwann ein ‚Genie‘ werden oder nicht. Ein Genie zu sein, das bedeutet nicht zwangsläufig Unabhängigkeit, Produktivität oder Zufriedenheit im Leben. Wir kennen einen jungen autistischen Mann, der sich tatsächlich als Mathe-Genie entpuppt hat. Die Mutter macht sich Sorgen, weil es in der Familie noch mehr Mathe-Genies gibt. Leider langzeitarbeitslose Mathe-Genies. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Genies nicht so gut mit Kolleg*innen und Kund*innen umgehen können, sich schwer damit tun, Vorschriften zu befolgen, sich Ziele zu setzen, Termine einzuhalten. Sie wäre froher, wenn ihr Sohn ein bisschen weniger Genie, dafür gesellschaftlich besser integriert wäre und sich auf dem Markt etwas besser verkaufen könnte.
Zu breit
Ich möchte Ihnen noch einen Einblick in meinen Beruf geben, soweit es diese Diskussion betrifft.
Redaktion und Schreibwerkstatt ermahnen Autor*innen ständig, sie sollen nichtssagende Adjektive vermeiden und stattdessen aussagekräftigere Substantive, Verben oder Wendungen bevorzugen. Das fließt nicht immer so leicht aus der Feder. Es ist oft eine Anstrengung, diese spezifischeren, mehr gefühlsbetonten Konstruktionen zu Papier zu bringen. Aber damit wächst auch die Herausforderung beim Geschichtenerzählen. Ob Sie schreiben oder nicht, an dem Tag, an dem Ihr Kind geboren wird, fangen Sie an, eine Geschichte zu erzählen. Die Art und Weise, wie Sie die Geschichte in den jeweiligen Entwicklungsstufen Ihres Kindes erzählen, bestimmt, welche Menschen sich ihm zuwenden. Sie hat einen Einfluss darauf, wer bereit ist, eine Rolle auf einer einzelnen Seite der Geschichte, einem oder mehreren Kapiteln zu spielen und wer sich ausklinkt.
Wenn ich auf zahlreiche IEP-Treffen10 und Elternabende über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren zurückblicke, erinnere ich mich nur an sehr wenige Situationen, in denen ich oder die etlichen Lehrer*innen von Bryce den Begriff Autismus thematisierten.
Es ist mir lebhaft in Erinnerung, dass wir viele Stunden lang intensive Gespräche über die sozial-emotionale Kompetenz, über die sprachliche Entwicklung, die Sinneswahrnehmung, über kurz- und langfristige Ziele geführt und versucht haben, Herangehensweisen zu erarbeiten. Man könnte damit hunderte Seiten füllen. In kleinen Schritten haben wir über Jahre hinweg die einzelnen Herausforderungen definiert, formuliert, sind sie angegangen und haben sie gemeistert. Losgelöst von Schubladendenken hatten wir einen messbaren Erfolg. Mit der Zeit und mit unserer Unterstützung lernte Bryce, seine Anliegen geschickt selbst zu vertreten, und um das, was er brauchte, zu bitten. Dabei stützte er sich auf sein eigenes Verständnis dessen, wie er lernt und verarbeitet. Wie man diesen Lern- und Verarbeitungsstil benannte, war von untergeordneter Bedeutung. Er betrachtete seinen Autismus als wichtigen und existenziellen Teil seiner selbst, erkannte aber auch klar Aspekte in seiner Persönlichkeit und seiner Sicht auf die Welt, die man als ‚typisch‘ oder ‚üblich‘ bezeichnen könnte. Er verglich sich mit Mr. Spock aus Star Trek, bei dem der Vulkanier-Anteil und der menschliche Anteil nebeneinander existieren und sein Erleben des kognitiven und sozial-emotionalen Denkens beeinflussen – manchmal auf überraschende Art und Weise, aber immer als ‚ganze‘ Person.
Um unser autistisches Kind der Welt, die es bewohnen muss, zu präsentieren, müssen wir meistens etwas ausholen. Einfache Lösungen oder oberflächliche Beschreibungen greifen nicht. Wenn wir Tagesfreizeiten besuchten, zum Schwimmunterricht gingen, neuen Lehrer*innen, Begleiter*innen begegneten, mit der Nachbarschaft oder unserem Freundeskreis in Kontakt kamen, dann habe ich die Unterhaltung nie so angefangen, dass ich einfach gesagt habe, mein Sohn ist autistisch, sondern erläutert, wie sein Autismus ihn in der aktuellen Situation beeinflussen könnte. Ich habe eine kurze Liste mit Kommunikationstaktiken und Vereinbarungen erstellt, damit er das für sich Beste aus den verschiedenen Begegnungen herausholen konnte. Ich bat die Menschen, ihn direkt anzusprechen, aus der Nähe, die Standardsprache zu verwenden und Redensarten zu vermeiden. Mehr zu zeigen als zu sagen. Seine Aufmerksamkeit auf Gleichaltrige zu richten, an denen er sich orientieren konnte. Diese Anweisungen waren simpel, aber nicht banal. Durch diese konkreten Richtlinien hatten andere Menschen, denen mein Sohn begegnete, Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass sich Erfolge für ihn einstellen konnten.
Erst kürzlich bin ich auf einen Zeitschriftenartikel gestoßen, der anschaulich schildert, dass die Fähigkeiten autistischer Menschen ein breites Spektrum umfassen. Eine Mutter, die nach einem Unterstützungsprogramm für ihren Sohn suchte, meinte: „Er ist fast ein