Ralf hat sich dann geschickt vor der Entscheidung gedrückt, indem er mich gefragt hat, was ich in seiner Situation machen würde, wenn ich ihm denn schon zu keiner Option raten wolle. Das ist ein beliebter und irgendwie auch verständlicher Schachzug von vielen Patienten. In meiner Sprechstunde habe ich die Frage nie beantwortet, weil ich wirklich der Überzeugung bin, dass Sie selbst entscheiden müssen. Im Falle meines Bruders habe ich eine Ausnahme gemacht: Ich hätte mich operieren lassen. Und so ist er zum Chirurgen gegangen.
Das Bedürfnis nach Austausch oder nach weiteren Informationen über die Erkrankung, deren Therapie und Prognose kann bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sein. Auch wenn es um existenzielle Fragen geht. Robert und Jule, zwei Freunde von mir, sind hierfür ein gutes Beispiel. Beide fieberten der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Es sollte ein Junge werden, Ole. Freude und Anspannung waren nach einer früheren Fehlgeburt groß. Dann war es so weit und Ole kam zur Welt. Allerdings einige Wochen früher als geplant, die unausgereiften Lungen machten Probleme, und so folgten Monate auf der Intensivstation.
Robert hat sich nach dem ersten Gespräch mit der zuständigen Ärztin, in dem klar wurde, dass Oles Überleben zu diesem Zeitpunkt keinesfalls gesichert war, sogleich über fast jedes Detail zu Medikamenten, Impfungen, Normwerten und Apparaten auf einer Intensivstation informiert, während Jule mit dem zufrieden war, was die Ärztin ihr erzählt hat, je weniger, desto besser. Sie war dadurch ruhiger, denn sie kannte nicht jede Komplikation, die eventuell hätte eintreten können. Ob die vielen Informationen Robert geholfen haben, mit der Situation umzugehen, weiß ich nicht. Er erzählte im Interview, dass er sich irgendwann beim Bäcker nervös umdrehte, weil es laut piepte und er in dem Moment dachte, Oles Beatmungsmaschine schlüge Alarm. In Wirklichkeit waren nur die Brötchen im Aufbackofen fertig. Da sei ihm bewusst geworden, dass man sich auch verrückt machen kann, und er habe die Strategie geändert. Er hat nicht mehr allen Eventualitäten nachgespürt und jedes Detail wissen wollen.
Für die betreuende Ärztin war es vermutlich ein ziemlicher Spagat, dafür zu sorgen, dass Jule über Oles Zustand „nur im Bilde“ war, und zugleich Roberts umfassendem Informationsbedürfnis nachzukommen. Es war auch insofern eine spezielle Situation, weil die Ansprechpartner die beiden Elternteile waren und die Kommunikation mit dem eigentlichen Patienten aufgrund seines Alters schlicht nicht möglich war. Mit Ole ist glücklicherweise alles gut gegangen und er stellt inzwischen zusammen mit seiner kleinen Schwester jede Menge Unfug an.
In meiner Praxis habe ich zum Teil ähnlich große Unterschiede in Bezug auf den Bedarf an Informationen erlebt. Das ist vermutlich normal und ich kann mich darauf einstellen. Ich muss allerdings wissen, was Sie wollen. Sie müssen mir also sagen, wenn Sie nur das unbedingt Notwendige zu Erkrankung, Therapie oder Prognose von mir hören wollen. Dass Sie gern viele Details und Erläuterungen von mir hätten, bekomme ich durch Ihre Fragen dagegen schon von alleine mit. Und beides ist in Ordnung, wobei die meisten Patienten irgendetwas zwischen diesen beiden Polen erwarten.
Das ist dann wahrscheinlich doch ähnlich wie in einer Kfz-Werkstatt. Erfahren, was kaputt war und wie lange die neue Kupplung nun hält, wollte Michael schon gern, wenn er sein Auto abholte. Hingegen haben ihn die Details zur Reparatur nicht wirklich interessiert. Eins aber ließ ihn aufhorchen. Der Meister meinte, er solle die Kupplung nicht zu viel schleifen lassen, sonst würde er bald wieder mit dem gleichen Problem dastehen. In den nächsten Tagen hat Michael dann darüber nachgedacht, wie er das mit dem Kuppeln besser hinbekommen könnte. Oder wäre ein Wagen mit Automatikgetriebe die Lösung? Der Meister hatte es drauf. Denn so soll es sein, nicht nur in der Kfz-Werkstatt, sondern auch beim Arzt: Das Gespräch wirkt nach und entfaltet seine Wirkung noch lange, nachdem Sie das Sprechzimmer verlassen haben.
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